Die Verweigerung der Rechtsordnung

Gesetze sind wie Spinnweben: Die großen Hummeln brechen durch, die Fliegen aber bleiben hängen.

Die bis aufs weitere erste Gesetzessammlung der Geschichte, der Codex Ur-Nammu, wurde von einem Völkchen, das man unter dem Namen der Sumerer kennt, verfasst. Sie lebten 3.000 Jahre vor dem Beginn unserer Zeitrechnung in Mesopotamien und gelten als eine der ersten Hochkulturen der Erde. Ihnen wird diese Erstrangigkeit durch die gesellschaftliche Komplexität zugeschrieben. In unserer westlichen Weltanschauung wird der Maßstab der Fortschrittlichkeit einer jeglichen Kultur durch die Ähnlichkeiten mit der „modernen“ Zivilgesellschaft festgelegt. Desto älter eine Kultur ist und gewisse Übereinstimmungen mit unserer erkennbar sind, umso mehr kommen sämtliche Forscher*innen und Unwissende ins Staunen. Die vermeidlichen Übereinstimmungen werden benutzt, um eine weitverbreitete Hypothese zu stützen: Die Herrschaft des Menschen über den Menschen ist so alt wie die Menschheit selbst, also etwas „natürliches“.


Im Fall der Sumerer wird die Autorität durch ein Artefakt wie dem Codex Ur-Nammu untermauert. In einem der 5 Abschriften heißt es <<Die Legitimation des Herrschers erfolgt durch göttliche, als auch draußen – und innenpolitische Erfolge>>. Alle können sich ihren Teil darüber denken…doch wer tatsächlich glaubt das Patriarchat, Religion, Krieg und Politik Eigenschaften einer freien Gesellschaft seien, kann getrost diese Zeitung weglegen. Hier sollen alle aufgezählten Errungenschaften nicht nur in Frage gestellt, sondern als Antithesen eines freien Lebens zu verstehen gegeben werden.

Progressives und akademisches Gedankengut wollen gerne die Gesellschaft mit einem Organismus vergleichen, der aus vielen kleineren Komponenten besteht und sich im ständigen Wandel befindet. Die Organe, die die Eigenschaften und Form dieses Organismus ausmachen, sind nicht zentral gesteuert, jedoch durch ein Grundgewebe von einander abhängig. Alle haben ihre genaue Funktion in Betracht auf die Erhaltung der Funktionalität. Es soll hier jedoch kein Missverständnis bei dem Gebrauch des Wortes entstehen, das nur zu natürlich wirkt: Organismus. Jedes Individuum lebt in einem Zwangsverhältnis zum Organismus und stellt ein winziges Element dar. Die Wahl der Verbildlichung durch einen dynamischen Körper ist aber auch die einzige Gemeinsamkeit mit einer <Natürlichkeit>. Es gibt sehr wohl Ansichten, die behaupten, dass die gesamte Gesellschaftsstruktur künstlich, erfunden und erzwungen sei. Demnach entstehen Zwangs und – Unterdrückungsverhältnisse erst durch formelle Gesetzesgebungen und Strafmethoden, die eine rigorose Trennung zwischen Legalität und Illegalität anstreben. Ein Dualismus zwischen Gut und Böse fördert zudem die Zwangsverhältnisse und verdeutlicht eine zutiefst religiöse, bzw. moralische Grundgesinnung. In diesen paar Zeilen soll es um die Normierung der Gesellschaft gehen, die Disziplinierung und Züchtigung vieler Millionen von Menschen. Wer hat entschieden, dass das gesamte Leben von Anfang bis Ende reglementiert werden muss? Wer hat entschieden, dass nur eine Hülle und Fülle von Bürokratien eine Gesellschaft als „Zivil“ definieren kann? Kann es ein Leben ohne einen Staat und dem Glauben daran geben? Kann es ein <wildes> Leben geben?

Ein Stichwort, das schon im Codex Ur-Nammu erwähnt wird, ist der <Erfolg>, als Parameter des staatlichen Erfolgs, wo nur eine Minderheit in und von diesem System profitieren kann. Wenn aus Sicht der Herrschaft ein Erfolg verbucht wird, rechtfertigt dieser die Ausübung von Gewalt, Unterdrückung und Ausbeutung. Der Erfolg ist eine Strategie des Überlebens und der Befriedung einer Minderheit, zum Nachteil der Mehrheit. Desto mehr die Minderheit, die Oberschicht, von dieser einen Strategie profitiert und sie aktiv oder passiv stemmt, umso mehr wird die Autorität spürbar und die Mehrheit wird dazu gedrungen, sie zu tolerieren. Die König*innen dinieren in ihren Palästen, geschützt von dicken Gemäuern und Wächtern und der Pöbel, in den Hütten der Slums, bekommt die Krümel ab. Millionen Menschen wachsen in solcher und ähnlichen Konditionen auf und erlernen sie als ein Naturgesetz zu verinnerlichen und ja nicht in Frage zu stellen. So kommt es, dass die Autorität, die Herrschaft des Knüppels oder des Zuckerbrots, in den Jahrtausenden als unvermeidlich anerkannt wurde und die daraus resultierenden Gesetze schon längst als systeminhärent und selbstverständlich gelten. Die gegebene Berechtigung der Machtausübung und Unterdrückung durch Gesetze und Strafe scheint nicht mehr wegdenkbar zu sein. Doch sind sie es nicht! Es gab und gibt auf der ganzen Erde verstreute Projekte, Communities und Kulturen, die abseits der herrschenden Verhältnisse leben, in den Wüsten und Wäldern dieser Erde und sogar in den dicht besiedelten urbanen Zentren. Das gesellschaftliche Geschichtsbild blendet bewusst diese wilden Lebensformen aus oder erwähnt diese nur am Rande der Geschichtsbücher. Dazu trägt auch der Fakt bei, dass etwas erst „existiert“, wenn handfeste Beweise, wie z.b. Manuskripte, Hieroglyphen oder Wandmalereien auffindbar sind. Dass es Formen eines menschlichen Zusammenlebens gab, welches schon Jahrtausende zuvor, aber mit kargen bis keinen Beweisfunden existiert habe könnte, erscheint als unspektakulär und dementsprechend uninteressant. Dass diese auch noch womöglich friedfertig und ohne Herrschaft existiert haben können: unvorstellbar. Umso weniger scheint es heutzutage vorstellbar, dass es verstreut auf dem Planeten Menschen gibt, die sich seit jeher auf Augenhöhe begegnen, Gewalt verneinen, ohne Mathematik und sonstige Gesetze und Religion leben, entweder weil sie sie nicht wollen oder gar nicht erst kennen, bzw. brauchen.

Die Regeln des Zusammenlebens sind meistens von denen erlassen, die durch verschiedenste Dynamiken dazu befugt sind. Ob durch mehr oder weniger demokratische Abstimmungen oder totalitäres Verhalten bleibt sich eher gleich. Die Regeln gelten dann für die Bewohner*innen auf einem begrenzten Gebiet, für eine begrenzte Zeit und werden je nach Bedarf angepasst, überarbeitet oder abgeschafft. In jedem Gebiet wird es immer Menschen geben, die von ihnen mehr profitieren als Andere. Die Benachteiligten wiederum haben die Möglichkeit der Integration oder der Rebellion, um ihre Position zu verändern. Die Rebellion kann benutzt werden, um brutalste Gegenmaßnahmen einzuläuten. Dies geht oft einher mit einer militärischen und technologischen Aufrüstung des Machtapparats, um ihn mit Gewalt und Kontrolle zu verteidigen. Oder es wird versucht, die Benachteiligten am Wohlstand mehr zu beteiligen. Hierbei reformiert und öffnet sich die Herrschaft stückweise. Beide Szenarien sind überspitzt, somit verkürzt und es gibt etliche Zwischenebenen, doch stellt sich die Frage: Kann eine Rebellion die herrschende Ordnung grundsätzlich in Gefahr bringen, wenn sie von reformistischen Forderungen ausgeht?

Das Recht und die Gesetze sind der Inbegriff von Ungerechtigkeit. Ein scheinbares Paradox..aber hier ein kleines Beispiel: Im „Land der Deutschen“ gibt es seit dem Einbruch der Pandemie viele Einschränkungen der Grundrechte, die Fundamente einer Volksherrschaft, die auch Demokratie genannt wird. In Namen der Volksgesundheit wird einfach mal in kürzester Zeit auf alle anscheinend guten Vorsätze geschissen. Wen wundert es? Es geht ja schließlich um die politische Souveränität und das Weiterbestehen der Zwangsverhältnisse. Der*die einzelne Bewohner*in soll sich diesbezüglich als machtlos fühlen, gehorchen und andere entscheiden lassen. Das hiesige Sozial – und Gesundheitssystem wird diese und jegliche andere Krisen schon irgendwie stemmen. Es soll an den Verwalter*innen liegen, deren Job es ist Notstände zu bewältigen. In anderen Teilen dieser Welt gelten ähnliche Verhältnisse, die selben Einschränkungen und Vorschriften, doch andere Grundvoraussetzungen. Ein relativ kleine Oberschicht profitiert von den Privilegien und währt sich in Sicherheit vor Krankheit und Armut. Sie schotten sich ab und leben in einer Blase. Viele Millionen Menschen werden in die Arbeitslosigkeit, Armut und Hunger getrieben. Sie wählen aus Verzweiflung und Wut spürbar vermehrt den Weg, sich aus ihrem Elend zu befreien, mit Gewalt gegen Eigentum und die Verteidiger*innen der Ordnung. Gesetze, die die Ordnung definieren, sind in ihrer Gesamtheit immer flexibel, aber auch verlogen und letztendlich durchschaubar. Sie dienen nicht der Gerechtigkeit, sondern der Aufrechterhaltung der gewalttätigen (Unter-)Ordnung, die auf der Teilung der Gesellschaft zwischen <Oben> und <Unten> basiert. Der Staatsapparat braucht diese immerwährende Ordnung, koste es was es wolle.

Was hat sich denn seit dem Aufblühen der ersten Hochkulturen verändert? Heutzutage wird die Bevormundung durch die Autoritäten mit Hilfe der technologischen Entwicklungen ausgebaut und standardisiert. Die Technologisierung des Lebens ist eine der vielen Werkzeuge der Domestizierung. Sie ist jedoch in den letzten 50 Jahren zu einer der Prägendsten für die Gegenwart und die Zukunft der ganzen Fauna und Flora dieses Planeten geworden. Die moderne Hoffnung und der Glaube der Menschen, an die anscheinend einzige Erfolgsstragie des nunmehr grün getunkten Kapitalismus und seiner technologischen Auswüchsen, ist ein Selbstmord-Unterfangen. Dennoch ist nichts unveränderlich, auch die in Stein gemeißelten Gesetze der Sumerer könnten irgendwann in Vergessenheit geraten oder sogar von Menschenhand wieder zerstört werden. Auch eine gesamtgesellschaftliche plötzliche Amnesie, provoziert durch revolutionäre Tendenzen, Pandemien oder sonstige einschneidende globale Ereignisse, könnten ein anderes Leben ermöglichen, doch darauf zu warten und zu hoffen wäre vergebens. So muss eins klar sein, für das Hier und Jetzt: Wer die Freiheit will, muss bewusst die Gesamtheit der Gesetze und die Autorität als solche hinterfragen, umgehen, missachten..sie verweigern!

Dies soll nicht bedeuten, dass die plumpe Negation die Antwort auf jegliche Autorität sei. Doch muss ein Anfang gemacht werden. Während der Sozialisierung eines jeden Menschen gab es wahrscheinlich einen kleinen Moment der instinktiven Rebellion gegen die Familie und/oder Eltern. Ein unbeschreibliches Gefühl der Auflehnung. Schlimmsten Falls gelingt es, diesen wilden Instinkt durch Pädagogik, Herdentrieb und Schule zu verwässern oder komplett zu unterdrücken und jede*r akzeptiert dann die jeweilige Rolle, Position, Aufgabe und Zukunft. Daher bleibt die Negation, das Nein-Sagen und den Mut zu finden, dies auszudrücken, ein wichtiger Moment der Selbstbestimmung. Der Ungehorsam und die Wildheit sollten gehegt und gepflegt werden, die blinde Knechtschaft ein Ende finden. Die Definition des Ichs kann nicht reglementiert werden, sie ist so individuell wie jede*r Einzeln*e. Es gibt aber individuelle und kollektiv erarbeitete Werte und Prinzipien, die in einer Ethik ausgedrückt werden können. Diese Ethik, die u.a. eine Emanzipation aller Geschlechter voraussetzt und auch religiöse Sitten und Moral ablehnt, bedarf bestenfalls keiner Kontrollinstanzen und auch keiner Bestrafungsmethoden, da sie auf der temporären Freiwilligkeit der jeweiligen Beteiligten beruht. Der freie Wille ist das Gegenteil vom starren Determinismus des Staatswesens. Die Erkenntnis, dass es nichts Vorgegebenes gibt, das für alle Ewigkeit bestehen bleibt, ist ein trauriger Hoffnungsschimmer. Die Realität, unsere Gesellschaft und jedes Individuum muss sich zu tiefst verändern, um den Freien Willen zu leben. Gesetze existieren, damit sich insgesamt nichts Grundlegendes verändert. Deswegen kann ein Leben in Freiheit nur erlebbar sein, ohne Gesetze, ohne Moral und ohne Herrschaft.