Gedanken über die Entfremdung
Man muss kein erleuchtetes oder belehrtes Wesen sein, um die allgegenwärtige Missverhältnisse zu verspüren. Die Rede ist vom Spürsinn, der sowohl physisch als auch psychisch sein kann, aber eben den kognitiven Bereich unseres Gehirns stimuliert. Diesen Eindrücken kann man sich auf Dauer nicht entziehen. Die Frage ist, wie damit umgegangen wird: Resignation oder Aufstand? Natürlich gibt es auch den demokratischen Mittelweg durch die Institutionen, der ist aber an dieser Stelle schlicht belanglos. Das Fatalste ist die Resignation. Sie in den Gesichtern und den Gesprächen mit anderen Menschen zu erfahren ist entrüstend. Was den Aufstand betrifft, stellen sich unendlich viele Fragen und es gibt kaum Antworten. Doch dauert ein Worttausch über Resignation weitaus weniger, als eine Diskussion über die 2te Option. Das zeigt schon ein wenig das Potenzial von der handelnden Tat, die zum massenhaften Aufstand führen kann. Mit dem Aufstand ist der Wille gemeint, sich der existierenden Gesellschaft mit allen erdenklichen Mitteln zu widersetzen, in dem der Wunsch nach einem Zusammenleben ohne Unterdrückung und Herrschaft gelebt wird. Nur zu oft wird in der hiesigen Zivilgesellschaft der Drang, selbst zu handeln, als überflüssig deklariert. So fängt die Entfremdung von einem selbstbestimmten Leben schon mit der autoritären Erziehung an – bis hin zur techno-wissenschaftlichen Abhängigkeit. Und so kommt es, dass die vielen Verblendeten vor sich hin leben. Ziellos wandern sie auf den vorgegebenen kapitalistischen Pfaden auf und ab. Die gemeinsame Einsamkeit ist das Grauen unserer Zeit. So „nahe“, aber doch so fern.
Es stellt sich die Frage der Sinnhaftigkeit und Bedeutung unserer Beziehungen in dem sozialen Kontext, in den wir hineingeboren sind. Unsere verinnerlichten Wünsche und Sehnsüchte sind die Spiegelung unserer individuellen Konditionierung. Ihr Einfluss beruht auf den prägnanten Merkmalen der Verwertbarkeit, des Wettbewerbs, der Selbstbeherrschung und der schier unendlichen Auswahl von Konsumgütern. Das ist das Bewegungsterrain, in dem es den Menschen erlaubt ist zu leben, bzw. zu produzieren und konsumieren. Der Zugang zu diesen Gütern und Dienstleistungen in den Industrieländern ist wahrlich größer und vielfältiger als für so manch anderen Menschen anderswo. Dieses betäubende Gefühl überdurchschnittlich abgesichert und versorgt zu sein, ist vielen bewusst und sie wollen den Wohlstand teilen oder sogar übertragen auf Andere. So entsteht in unserem Kopf das Konzept der Privilegien. Als Teil derer, die Privilegiert sind, dürfen wir diese maßlos ausleben. Das beschämende Bewusstsein, dass einige andere Menschen nicht den selben Status haben, versetzt Viele in Betroffenheit und so versucht der Gutmensch in uns ein bisschen bewusster, nachhaltiger, ökologischer zu leben. In dem Moment kommt die „grüne“ Wirtschaftsordnung ins Spiel, die all die vermeindlichen „Erleuchteten“ mit ihren ethisch u. ökologisch vertretbareren Angeboten befriedigt. Das zermürbende Schuldgefühl scheint verringert zu sein, weil man glaubt „Gutes“ zu tun, indem bewusster konsumiert und gelebt wird. Die Suche nach einem widerspruchsfreien Leben ist wie eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt. Der mythologische Figur des Ourboros, der für die kosmische Einheit steht. Die Einheit, heißt Ordnung, heißt Knechtschaft, heißt Herrschaft, heißt Kontrolle, heißt Gewalt. Es ist notwendig, diese künstliche Einheit ohne halbherzige Maßnahmen zu durchbrechen. Anstatt uns vor Wut ständig in den Arsch zu beißen, ist nicht jetzt der richtige Moment, die Verantwortlichen dieser Misere zu zerfetzen?
In der Politik und in der Wirtschaft wird mit typischen Schlagwörtern nur allzu gerne um sich geworfen: Solidarität, Generationenvertrag, Grundsicherung, etc. Dabei geht es jedoch ausschließlich um die Symptombekämpfung gegen potentielle Wutausbrüche von Menschen, die nicht mehr vollkommen vom kapitalistischen Laufrad befriedigt sind. Die momentane Lebensqualität wird durch die Akkumulation von Waren und Dienstleistungen wahrgenommen, die wiederum das Gefühl von Freiheit erzeugen sollen. Es ist eine Illusion, die von der Vernetzung von unterschiedlichen ökonomischen und politischen Interessen proklamiert wird. Das künstliche, fremdbestimmte Individuum lebt in dieser Blase, in dem Glauben, das diese kapitalistische Realität Gott-gegeben wäre. Ist das keine Entfremdung?
Doch bröckelt diese Realität an allen Ecken. Überall lassen sich Widersprüche erahnen und feststellen, manchmal schauen wir weg, manchmal empören wir uns und manchmal erheben wir uns. Die drohende Vergänglichkeit der kapitalistischen Gegenwart ist besonders der Regentschaft dieser Ideologie bewusst und so liegt eine ihrer Aufgaben darin, den Zirkus weiter und unaufhörlich am Laufen zu halten. Neuerdings wird versucht, mittels der Digitalisierung die Menschen zu blenden und somit, von den sozialen Diskrepanzen ab zu lenken. Die Digitalisierung verspricht angeblich mehr Gleichheit, weniger soziale Unterschiede, alle dürfen teilnehmen, mehr Luxus, mehr Komfort, Fortschritt, Wirtschaftswachstum, Effizienz und insgesamt ein „besseres“ Leben. Doch trotz dieser Menge an Lebensqualitätssteigenden Maßnahmen, war der einzelne Mensch noch nie so einsam verschanzt hinter einer Mattscheibe und emotional verkümmert. Das ist einer der spürbarsten Widersprüche, die hochkommen, wenn das Individuum mal vom alltäglichen Gehetze zu Ruhe kommen würde. Doch sind Ruhezeiten im kapitalistischen Weltbild ineffizient. Und so nähren sich viele Menschen in ihrer „Freizeit“ von den digitalen Verlockungen in dem Glaube frei zu sein. Man verabredet sich anonym zum Sex und bestellt sich sein Essen nachhause, weil ja keine Zeit zum kochen bleibt. Nächstenhilfe wird nicht benötigt denn für alles gibt es eine Dienstleistung. So erlernt der moderne Mensch alleine zu Recht zu kommen, und verlernt eine der fundamentalsten aller Gesten: nach Hilfe zu fragen. Empathie wird zum Fremdwort. Im Gegenteil, wer Hilfe beansprucht wirkt schwach, und überhaupt, wer Schwäche zeigt ist auf der Verliereseite der Konkurrenzgesellschaft. Der Mensch ist entzückt von den abstrusesten technologischen Errungenschaften und Möglichkeiten – ein Leben ohne digitale Geräte ist mittlerweile schwer denkbar. Sie ist aber nur ein Teil der gesamten Entfremdung, die versucht unsere Menschlichkeit zu verkrüppeln. Mensch-sein ist Out, der moderne Mensch ist vernetzt, verkabelt und perfektioniert sich durch hochentwickelte Technologien. Ab dem Moment wo es nicht mehr möglich ist von einem anderen Leben zu träumen, ist der Anpassungsprozess abgeschlossen. Was hat das noch mit Freiheit zu tun?
Das andere Leben: Ein anderes Leben, das ohne Interessensvertretung funktionieren soll, kann kaum in zentralistischen Lebensräumen, wie einer Stadt, möglich sein. Wo immer zentralisiert wird, stinkt es nach Verwaltung, was wiederum bedeutet, dass es Verwalter und Verwaltete gibt. Wenn der Traum von einem hierarchiefreiem Leben uns antreibt, dürfte es keine Verwalter geben, keine Machthaber, keine Ausbeuter und keine Ausgebeuteten. Die Solidarität ist diesbezüglich keine Maxime, sondern die gelebte alltägliche Unterstützung durch eine direkte Beziehung zwischen den Menschen, nicht durch Dienstleistungsbehörden, wie z.b. dem Staat. Daher ist die Zerstörung jeglicher Machtverhältnisse für diejenigen Menschen, die aus der kapitalistischen Ohnmacht aufgewacht sind, ein essentieller Schritt, um sich schon im Hier und Jetzt ein anderes Leben zu erschaffen.