Die bestehende Gesellschaft beruht auf Ungleichheit, weil sich unterschiedliche Interessen in einem Machtverhältnis unversöhnlich gegenüberstehen. In einem kapitalistischen System haben diejenigen, die Kapital besitzen (Eigentum, Produktionsmittel, Immobilien, Konzerne,…) andere Interessen als diejenigen, welche ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, Sozialhilfen empfangen, zur Miete wohnen. Vermieter*innen haben ein Interesse, dass die Miete für Wohnungen steigt. Mieter*innen haben ein Interesse, dass die Miete gleich bleibt oder sinkt. Genauso bei der Arbeit. Die Führung eines Unternehmens möchte, dass der Lohn für die Arbeitnehmer*innen so gering wie möglich bleibt. Menschen, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, möchten mehr Lohn haben (oder zumindest das, was angemessen zum Profit des Unternehmens steht). Diese unversöhnliche Gegenüberstellung wurde Klassenkampf genannt und beschrieb vordergründig diesen ökonomischen Konflikt. Heute, hier in Deutschland, sind die Klassen weniger sichtbar, da sich die Arbeitsverhältnisse verändert haben.
Eine klassische Arbeiter*innenschaft gibt es kaum noch, wie z.B. Fabrikarbeiter*innen, oder auch eine Schwermetallindustrie existiert fast nicht mehr. Diese Arbeiten wurden im Laufe der Globalisierung des Marktes in andere Länder verschoben oder durch die Automatisierung der Produktion überflüssig. Allem voran bestanden diese Klassen aus einem ökonomischen Verständnis. Hier und heutzutage soll sich beispielsweise jede*r ein Auto kaufen können oder ein anderes „klassisches“ Luxusgut. Führten Klassenkämpfe in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch zu ernsthaften Bedrohungen für das kapitalistische System, wurden diese auf unterschiedliche Weise „entschärft“. Dazu trugen die späteren Gewerkschaften als Schlichterinnen der Konflikte bei, sowie Reformen und die Sozialpartnerschaft. Die Ungleichheit oder die Klassen verschwanden dennoch nicht, sondern wurden befriedet. In gewisser Weise wurde eine „alte“ Arbeiter*innenschaft durch prekäre und individualisierte Arbeitsverhältnisse abgelöst. Die in letzter Zeit mal wieder sichtbar gewordenen Verhältnisse in der Fleischindustrie zeigen, dass die Industrie seit Jahrzehnten die prekären Situationen von Arbeiter*innen, z.B. aus Osteuropa, ausnutzt.
Die Ungleichheit ist nicht verschwunden. Sie zeigt sich weniger durch eine rein ökonomische Ungleichheit, sondern viel stärker auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene. Eine Ungleichheit im Verhältnis zu Zugängen zu Wissen, Kontrolle, Regieren – und somit auch durch Ausgrenzungsmechanismen, wie Rassismus. Die allerwenigsten Menschen können über ihr Leben selbst bestimmten. Alle sind nicht nur in Zwängen und in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Markt und dem Staat verhaftet, sondern auch zu den herrschenden Normen, die heteronormativ, patriarchal und (klein-)bürgerlich sind. Es gibt Menschen, welche durch diese Abhängigkeit Anderer ihre Macht und somit Einfluss vermehren können. Diese mächtigen Stellungen sind jedoch nicht an Personen gebunden, sondern basieren aufgrund von Strukturen. Dies bedeutet, dass jemand heutzutage in diesem hierarchischen System „aufsteigen“ kann, jedoch die gesellschaftliche Ungleichheit bestehen bleibt. Man kann z.B. viel Geld haben und somit viel konsumieren, jedoch gehören einer*m nicht zwangsläufig damit Produktionsmittel oder Kapital. Oder auch wenn heute die Rede davon ist, dass Frauen ein besserer Zugang zu Führungsrollen gegeben wird (alles nur theoretisch), dann bedeutet dies nicht, dass die konstruierte Ungleichheit der Geschlechter verschwindet.
Der Begriff des sozialen Krieges beschreibt nicht nur die gesellschaftliche Ungleichheit, sondern auch den Konflikt und die Gewalt, welche mit dieser einhergehen. Denn die Herrschaft und ihre Profiteure stehen andauernd in einem Kriegszustand, um ihre Macht zu beschützen, welche an die bestehenden Verhältnisse gekoppelt ist. Dieser Schutz wird einmal durch präventive Maßnahmen sichtbar, wie die Sicherung staatlicher und kapitalistischer Einrichtungen, Kameraüberwachung im öffentlichen Raum, Gesetze, Gefahrengebiete, Digitalisierung der Arbeit und des Alltags, … Zweitens, durch die ausführenden Organe des Staates, wie die Justiz, die Polizei, das Militär und das Gefängnis (wobei dies auch präventiv wirken soll). Dazu kommen scheinbar subtilere Akteure, beispielsweise Sozialarbeiter*innen, Quartiersmanager*innen, Sicherheitsdienste, …
Dabei gibt es mehrere „Waffen von Oben“ innerhalb des sozialen Krieges. Mittel, die dazu beitragen, dass die Machtverhältnisse bestehen bleiben. Entweder durch aktiven Schutz und die Verteidigung von Eigentum oder durch Befriedigung mit Hilfe von Sozialleistungen, Lohnerhöhungen, Betäubungen und Ablenkungen, … damit sich Menschen zufrieden geben, mit dem was sie haben. Der soziale Krieg von „Oben“ scheint in dieser Hinsicht gut organisiert zu sein. Dies auch, weil die gemeinsamen Interessen der Herrschaft und ihrer Helfer*innen klar sind. So haben z.B. Cops und Sicherheitskräfte, die selbst viel weniger verdienen wie die Menschen, deren Eigentum sie beschützen, ein Interesse an den Verhältnissen, weil ihnen einen Teil der Macht gesichert wird. Diesbezüglich ist es nicht verwunderlich, dass ideologische Motivationen bei Bullen und Co. immer wieder auftauchen, wie rassistische Übergriffe oder Brutalität, denn diese sind ein integraler Bestandteil der Herrschaft.
Auf der anderen Seite befinden sich diejenigen Menschen, welche weniger Vorteile, sondern viel mehr Nachteile von diesem ungleichen System haben. Denn von der eigenen Abhängigkeit und Ausbeutung profitieren Andere, welche ein Interesse daran haben, dass dieses Verhältnis weiter besteht oder sich verfeinert. Dass sich viele Menschen diesen Zwängen nicht (mehr) bewusst sind, hängt mit einer Entfremdung zusammen, die einen selbst nur noch in der, auf der Herrschaft aufbauenden, Logik denken lässt. Die Unzufriedenheit schlägt gegenüber der bewussten oder unbewussten Ungleichheit immer wieder in Frustration um – falls sie nicht in komplette Resignation verfällt. Entweder gegen sich selbst, wie Selbstmord oder Selbstzerstörung durch Drogen. Oder durch willkürliche Gewalt gegenüber Anderen. Der Begriff des „sozialen Kannibalismus“ scheint die Gewalt in den Kreisen der „Verlierer*innen“ der Gesellschaft passend zu beschreiben. Dabei ist dies ein Symptom des sozialen Krieges von Oben, wodurch sich die Reichen und ihr Eigentum besser schützen können. Während sich Menschen gegenseitig um ein Smartphone oder etwas Bargeld abstechen, obwohl ein paar Ecken weiter bei der Bank mehr Geld zu holen wäre. Es gibt sicherlich noch andere Beispiele, den einen oder anderen aktuellen Fall, welche das Elend des sozialen Kannibalismus aufzeigen.
Die Unzufriedenheit, die Erfahrung von Unterdrückung und Erniedrigung, kann sich in manchen Momenten auch gegen die Ursachen dieser wenden. Auf individueller Ebene, in Angriffen gegen Verantwortliche des eigenen Elends. Oder auf kollektivere Weise, zusammen auf der Straße. Krawalle, Unruhen und Aufstände können dabei einen offensiven Ausdruck dieses kollektiven Handelns von Unten darstellen. Diese erscheinen dabei für Viele konfus in ihrem Ausdruck, gerade weil Unruhen die gelenkten Bahnen verlassen und häufig eine Reaktion auf die ständigen Einschläge von „Oben“ sind. Die Diskussion über „friedliche Demonstrationen“ hingegen bleibt im Rahmen der Herrschaft, denn in dem „friedlichen“ bleibt die Ansammlung von wütenden Menschen innerhalb der Kontrolle der Herrschaft. Inwieweit man friedlich in einem gewaltvollen System sein kann, bleibt eine andere Frage, die an anderer Stelle diskutiert werden kann. Die Worte eines Revoltierenden 1965 bei den Unruhen in Watts, einem Stadtteil von Los Angeles, wo die Bewohner*innen tagtäglich rassistische Unterdrückung erfuhren, bleiben bis heute aktuell: „In einer angeblich freien Gesellschaft, gehe ich durch die Straßen und die Polizei hat den Nerv mich zu fragen: „Wohin gehst du..?“ „Woher kommst du..? Es geht euch überhaupt nichts an, wohin ich gehe oder woher ich komme! Das ist doch unverschämt! Er fragt mich: „Was machst du hier..?“ Würdet Ihr das irgendjemanden anders auch fragen? Würdet Ihr irgendjemand anders in dieser Gesellschaft anhalten und fragen: „Warum existierst du..?“ Aber mich fragt Ihr das jeden Tag. Was glaubt Ihr, was das für Auswirkungen auf meine Psyche hat? Was sagt mir das? Was für eine Botschaft vermittelt Ihr mir da jeden Tag? Versteht Ihr das nicht? Jeden Tag füttert Ihr mich mit einer Portion Hass. Jeden Tag ist das meine Nahrung. Ein Löffel Hass. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann das explodieren und wen es dann treffen wird. Werde ich mir selbst etwas antun? Werde ich meinen Bruder angreifen? Oder mein eigenes Spiegelbild? Oder werde ich am Ende die Ursache für meine Wut und Frustration angreifen? Der Punkt ist: ich bin eine wandelnde Zeitbombe und ich werde explodieren! Eines Tages, irgendwo und bei irgendwem. Die Frage ist nur: wen wird es treffen?“
Seit mehreren Wochen nehmen sich Menschen auf der ganzen Welt wieder verstärkt die Straße und ihre Würde zurück, indem sie die Polizei angreifen, das rassistische und koloniale Erbe der westlichen Welt und ihre Kontinuität versuchen zu zerstören und ein gesamtes System in Frage stellen. Die Proteste verließen schnell das politische Terrain, denn Appelle an die Politik entlarvten sich als Bitten an ein System, das von der Unterdrückung profitiert. Die Wut richtet sich gegen alles und jede*n, welches Eine*n töten möchte, klein hält und den Zugang zum freien Leben verwehrt. In Stuttgart vor ein paar Wochen, war es polizeiliche Schikane – die vor allem durch die Corona-Maßnahmen intensiviert wurde – die zu viel war und mehrere Menschen zum eigenständigen Handeln gegen die Polizei und die Welt der Waren ausrasten ließ. Die Verurteilung der Gewalt der Wütenden ist dabei eine weitere Heuchelei der Herrschenden, welche das Gewaltmonopol für sich beanspruchen, in einem System, das auf (struktureller) Gewalt basiert.
Die soziale Revolution wurde für Viele zu einem Traum oder Sache der Träumer*innen. Dabei bleibt sie die einzig konkrete und praktische Antwort auf den sozialen Krieg von Oben. Denn sie stellt das gesamte System, welches auf Ungleichheit beruht, in Frage. Vielleicht braucht es immer wieder Tropfen, welche das bekannte Fass zum Überlaufen bringen…