Ein weiteres experimentelles Lebensprojekt geräumt!
Die Liebig 34 wurde geräumt. Eine Zwangsräumung angeordnet in einer Stadt, die von Massenkonsum, hässlicher Parzellierung, ins unermesslich wachsende Bürokratie, Büroviertel, Gesichts- und geschichtslose Strukturen urbaner statischer Einheitsgebiete, von Mangel an gemeinschaftlichen und menschlichen Wechselbeziehungen überquellt. Diese Stadt und ihr Ausverkauf an Investoren verwandelt die Menschen in bloße Kallkulationsobjekte, in technisch-soziale, ausdruckslose Ingenieur*innen unseres Selbst, eingehegt in Massenkonzepte emotionaler Beziehungen.
Die Liebig 34 war eines von vielen Projekten, das vor 30 Jahren besetzt und dadurch ein Stück weit der kapitalistischen Markt- und Verwertungslogik entzogen wurde. Inzwischen war das, zuletzt auf 10 Jahre vereinbarte Mietverhältnis mit Padovicz, beendet. Der stadtbekannte Eigentümer, der gerne auch mal mit persönlichem Haß gegen Mieter*innen vorgeht und brutale, handgreifliche Securities für seine Objekte einsetz.
Exbesetzte Häuser und Hausprojekte in Berlin sind oft mit den Versuchen von emanzipatorischen Lebensexperimenten verbunden. Orte, wo verschiedene politische Zusammenhänge oder Wohngruppen verschiedener Generationen über Jahrzehnte lang aufeinander getroffen sind, die ihren Alltag diskutieren, experimentieren und selbst organisieren, um in anderen Konzepten, als die normative Gesellschaft für Ein*e bereit hält zusammen zu leben. Meist mit dem Anspruch gemeinschaftlich miteinander zu leben, indem wechselseitige Bedürfnisse und die Anerkennung der Kompetenzen Einzelner zugelassen werden. Mit dem Bedürfnis nach solidarischen Aktionen und Selbstverwaltung, aber auch nach libertären Beziehungen untereinander, einem sich gegenseitigen Verstehen und Lernen ohne hierarchische Bildungs,- Bindungs,- und Praxisformen.
Aber alle, die in solch einem Projekt schon mal lebten oder noch leben, wissen, dass der Versuch eines Lebens jenseits der hässlichen, kapitalistischen Verwertungslogik, auf viele Arten und Weisen Scheitern kann! Denn auch in solchen Projekten wird bspw. Selbstverwaltung oft auf die verwaltenden ökonomischen Mittel reduziert, das zeigt wie ökonomische technokratische Werte Einfluss auf unser Denken genommen haben. Für mich sollten jedoch alle in einer libertären organischen Gesellschaft einen freien Zugang auf die Mittel haben, die zur Erhaltung ihres Lebens notwendig sind, ungeachtet ihres Beitrages zur Gesellschaft. Ein Dach über dem Kopf, Essen und gute soziale Beziehungen als geistige Nahrung. Ein allgemeines Verständnis von gegenseitiger Hilfe und Verantwortung macht somit jede Angehörige der Gesellschaft mitverantwortlich und könnte damit den kapitalistischen Zuständen entgegenwirken, die von Ungleichheit und Abhängigkeit der Schwachen von den Starken, der Alten von den Jungen, der Gebrechlichen von Gesunden, also von denen, die Funktionieren im Kapitalismus, geprägt sind.
Jedoch: „Die nicht wagt, die nicht gewinnt!“ Das Leben in einem Hausprojekt und die Versuche sich jenseits von Eigentum, Hierarchie, Kapital, Patriarchat und Rassismus zu organisieren können auch ansteckend auf eine Nachbarschaft oder andere Projekte wirken.
Hier stellt sich die Frage, warum solche Projekte wie die Liebig 34, das Syndikat, die Potse etc., die anders sein wollen, politisch und medial soviel Hass hervorrufen? Ist es das Anderssein? Ist es das gemeinschaftliche Ausprobieren von anderen Lebensformen? Sind es die offen ausgelebten sexuellen Neigungen? Ist es der Versuch sich der kapitalistischen Verwertungslogik zu entziehen? Ist es das Ausprobieren ohne Hierarchie zu leben, in denen alle sein können wie sie wollen? Ist es die Vielfältigkeit von gegenseitiger Hilfe und die täglichen Belange des Lebens selbst in die Hand zu nehmen? Oder ist es einfach die Durchsetzung der Hegemonie, derjenigen, die sich nun Lofts und Eigentum in der Nachbarschaft leisten können, und andere damit vertreiben? Derjenigen, die den alternativen Touch von Konsum lieben, aber nicht die wirkliche soziale lebendige Alternative? Vielleicht fühlt es sich auch wie ein Selbstverrat, eine Denunzierung der eigenen persönlichen gesellschaftlichen Lebensrealität an – wenn plötzlich im Hier und Jetzt das Zwischenmenschliche über das Ökonomische, die Selbstorganisierung über Hierarchie und das Soziale über Produkte gestellt werden würde? Ich weiß, es ist leichter einen Baum zu überreden Photosynthese einzustellen, als von den Herrschenden zu verlangen die Akkumulation des Kapitals einzustellen. Deshalb ist es so wichtig in jedem Projekt, in jeder Aktion das Problem der Herrschaft in all ihren Aspekten anzugreifen. Nicht nur die ökonomische Hierarchie sondern jegliche Hierarchie, nicht nur gegen die patriarchale Familie sondern gegen alle Formen von Herrschaft, nicht gegen die eine Klasse, sondern gegen alle Formen von Ausbeutung und Eigentum!
Um aber intervenieren zu können in die abscheulichen gesellschaftlichen Vorgänge braucht es direkte Aktionen im Sinne von direktem beteiligt-Sein und einer täglichen Gymnastik des Gehirns in Entscheidungsprozessen zur Individualität, mit einer ethischen Willensstärke und persönlicher Sensibilität zur Veränderung gemeinschaftlicher Zusammenhänge. Im direkten Handeln können wir ein Bewusstsein über die Abläufe in der Gesellschaft, ein Gefühl zu unserem „Selbst“ und unserer Individualität zurückerlangen. Eine freie Gesellschaft kann nur durch Eigenaktivität und Selbstverwaltung gelingen.
Auch wenn dieses eine Haus oder dieses eine Projekt verschwunden ist, pfeifen wir es von den Dächern: Es gibt überall in dieser Stadt und auf diesem Planeten Menschen und Zusammenhänge, die der Apathie der öffentlichen und erschreckenden Gleichgültigkeit gegenüber der staatlichen und kapitalistischen Gewalt ein Ende bereiten. Indem sie ihr Leben in die eigene Hand nehmen. Ein Leben, das wir für uns und unsere Jugend erträumen, indem wir jetzt und überall Freiräume jenseits ökonomischer Autorität, indem wir selbst alle Aspekte unseres Seins experimentieren. Sei es in einem Nachbarschaftsgarten, in einer Kiezini, einem Hausprojekt, einem Kollektiv, direkten Aktionen, autonomen ländlich erkämpften Gebieten etc.. Nur unsere von uns selbst gewählten Lebensweisen und Kämpfe beeinflussen das Klima auf diesen Planeten: Technologien, zentralisierte Nationen, Staaten und Bürokratie, Ausbeutung des Planeten und seiner Flora und Fauna haben ihre Grenzen erreicht. Unsere Verantwortung liegt darin, das fantasievolle Potential von zerstörerischer Herrschaftstechnik zu befreien. Das Leben muss nicht durch kriegerische, autoritäre, rassistische und systematische Ausgrenzungen geregelt werden, sondern kann auch libertär in organischen Strukturen und Respekt zum Leben und dem Planeten gestaltet werden.
Da wir keine Mitläufer*innen sind, die nach belieben (des)organisiert werden können, werden wir nicht wie Frösche über die Kämpfe zum Erhalt der Liebig hinwegspringen. Wir werden unsere Ideen weitertragen über die Dächer und Grenzen hinaus und wenn es notwendig wird Zuschlagen. Sie haben die Liebig zerstört, aber nicht unsere Ideen.