Sisyphus befreit sich

Im tiefsten Winter habe ich endlich erfahren, dass ein unbesiegbarer Sommer in mir lebt.

Die ständige Suche nach etwas Hoffnung, Antworten und letztendlich Sicherheiten lässt viele im Dickicht der menschlichen Lebensräume herum irren. Manchmal findet man auf diesen unsicheren Wegen, Momente der Inspiration und sogar Momente der Verwirklichung der Ideen. Letztendlich besteht das Leben aus einem Dschungel aus Ruhe und Unruhe, Ängsten und Hoffnungen, Liebe und Trauer, Verwirrung und Klarheit und ganz viel dazwischen. So wie jeder andere Mensch, verspüre auch ich das Bedürfnis, inneren Frieden durch Sinnhaftigkeit zu erreichen. Doch was treibt mich eigentlich dazu allem einen Sinn zu attributieren? Die Ideologen haben es relativ einfach, sie wollen eine Erklärung für die Welt und ihre Verhältnisse beanspruchen. Falls sie mal ein paar wegweisende Gedanken haben, können sie sich genüsslich zurücklehnen, denn die kommenden Generationen können sich nun darüber den Kopf zerbrechen. Ich, hingegen wäge mich im ständigen Zweifel und schaffe es kaum an irgendwas blindlings zu „glauben“, sei es irgendeine „Wahrheit“ oder eine „Absolutheit“. Doch weiß ich auch, dass in der Welt in der ich aufgewachsen bin, das Individuum eine Reflexion seiner Umgebung ist und nur schwer für sich den freien Willen entdecken und ausleben kann. In dieser Welt gibt es sehr wohl Wahrheiten und Moralvorstellungen die das Über-leben maßregeln. Eine Wahrheit scheint u.a. die Herrschaft des Kapitals zu sein. Sie ist etwas künstlich Erschaffenes was, auf einer psychischen (durch Ängste und Wünsche) und physischen (durch Arbeit und Ausbeutung) Ebene, mein Innerstes beeinflusst und somit prägt. Der innerste Teil des Bewusstseins, die Anima des Individuums, so behaupte ich, wird je nach kulturellem Kontext erzogen und auf andere weiter projiziert.So gesehen kann es theoretisch keinen genuinen Rohzustand eines menschlichen Bewusstseins geben, außer ein Neugeborenes würde ohne jegliche moralische Einflüsse aufwachsen. Unser Ist-Zustand kann somit praktisch jeden Tag verändert werden, da er sich mit jeder neuen Erfahrung die wir machen wandeln kann. Deswegen kann eine Entfremdung nicht pauschal immer nur gut oder schlecht sein. Um einen Zustand zu verändern, der mir nicht passt und den ich verändern will benötige ich dafür die nötige Selbstkenntnis, den Willen und die entsprechenden Werkzeuge. Manchmal passiert etwas das uns entfremdet, obwohl wir es gar nicht wollen, das nenne ich Fremdbestimmung und die dahinterliegenden Machtgefüge und Zwangsverhältnisse sind Teil des Problems. Dieses Ereignis kann zu einem Missverständnis führen: Die fremdbestimmte Entfremdung wirkt sich meist negativ auf uns aus, da sie uns entmächtigt, weniger so die freigewählte Entfremdung. Man bemerke die Betonung auf die beiden kursiv gehaltenen Adjektive zwischen diesen beiden Maximen, denn es kann etliche Abstufungen geben. Eine aber allzu bekannte Reaktion auf die negative Entfremdung ist den Ur-Zustand zurück zu fordern. In dem Moment begibt man sich auf Glatteis, denn die eigene Machtlosigkeit zu verspüren, im Vergleich zur Übermacht die uns fremdbestimmt, kann zur Verzweiflung verleiten. Ein dumpfes Gefühl, das zur Ohnmacht überfließen kann. Eine folgenreiche Resignation gegenüber der herrschenden Zuständekann eine erschlagende Begleiterscheinungen dieser Form der Fremdbestimmung sein.

Ich denke, dass der Zweifel eines der bedeutendsten Fähigkeiten des menschlichen Bewusstseins ist. Aber vermutlich auch der gefährlichste; denn die Ver-zweiflung lauert in jedem Gedankengang. An Allem zu zweifeln macht müde, unsicher, verwirrt, paranoid. Dieser permanente „Wahnzustand“ ist das Gegenstück zu einer wohl-geformten Identität, die ihren Platz in dieser Gesellschaft gefunden hat und sich in den Sicherheiten der immanenten Welt einlullt. Ich behaupte nun das meine ständige innere Unruhe, die kapitalistische und transzendente Selbstsicherheit profaniert. Die Entweihung, die Profanierung der Realität ist für mich mittlerweile zu einem der vielen Werkzeuge geworden, um meiner Abscheu gegenüber sozialen Hierarchien Ausdruck zu verleihen. Die Entweihung ermöglicht mir, mich abseits der sakralen Gebäude und Werte zu bewegen und im „Hier“ und „Jetzt“ zu leben, ohne moralische Filter und politischer Mediation. Sie ist eine Notwendigkeit der Befreiung des eigenen Ichs von den toxischen Einwirkungen dieser Gesellschaft. Nicht um die Unordnung als Gegenpol zur Ordnung zu präsentieren, dann würde ich die aus der Unordnung resultierende Ordnung anerkennen und somit legitimieren. Nein, die Polaritäten zwischen Falsch/Richtig, Logik/Unlogik, Rational/Irrational sind die Ketten die das menschliche Selbstbewusstsein und seine Existenz einpferchen. Doch reicht es nicht nur immer „Anti“ zu sein oder an ein „fröhliches Ende“ zu glauben.

Um dem immer währenden Unbehagen zu entfliehen, wenn auch nur für einen kurzen Moment gibt es die verschiedensten Utopien, die erschaffen wurden um der Verwirrung Einhalt zu gebieten. Etwaige Antworten stehen hoch im Kurs und sind sozusagen der Jackpot der Geisteswissenschaften. In der Vergangenheit gab es manchmal mehr, manchmal weniger gut gemeinte Antworten auf soziale und geistige Fragen. Der Kapitalismus träumt heutzutage mehr denn je von einer Technokratie, die Demokratie schwört weiterhin auf die Herrschaft des Volkes, der Neoliberalismus glaubt an die Ökonomisierung der Märkte, der Kommunismus an die Diktatur des Proletariats, der Anarchismus an eine Gesellschaft ohne Autorität. Alle Utopien, oder besser gesagt, irgendeine idealisierte Zukunft, sind Versuche Antworten auf Fragen zu finden und sollen die Menschen verführen, dass es ausreichend sei daran zu glauben und alles Nötige dafür zu geben, sei es Zeit, Schweiß oder Blut. Dabei werden die Überschneidungen zwischen Utopien und Religionen erkennbar. Beide versprechen meistens einen zukünftigen Zustand, eben die Utopie oder das Paradies, in dem alles gut sein wird, wenn die Menschen in der Gegenwart den Leitlinien der Utopien folgen. Bis zur Vollendung müssen wir kämpfen, hungern, beten, studieren, arbeiten und gehorchen, am besten ein bisschen von allem. Das ist eine psychische Erpressung verbunden mit konkreter physischer Ausbeutung. Sich die Gegenwart so zu verbauen durch mögliche zukünftige Geschehnisse ist die Transzendenz. In so einigen politischen Kontexten geht es genau um transzendente Diskurse, von rechts, nach links, von autonom, zu anarchistisch. Die Manifeste oder Parteiprogramme sollen uns animieren immanent zu handeln, für eine andere bessere Gesellschaft in irgendeiner Zukunft, wo idealerweise es keine bösen Auswüchse mehr geben sollte. Andere Diskurse hingegen beginnen und enden in der Vergangenheit. Ob es nun faschistische Zusammenhänge sind, die alteingesessene autoritären Ideen weiterführen, oder graubärtige Kommunisten die in ihren vergangen Revolutionen hängen geblieben sind und ihnen nostalgisch nachtrauern. Sie ernähren sich von vergangen Zeiten und hoffen auf ein Aufblühen ihrer ruhmreichen Historie. Die immanenten Diskurse hingegen, die sich auf das Gegebene beziehen, scheinen von den Gläubigen der Ideologien bestenfalls als Realpolitik interpretiert zu werden. Doch bezieht sich deren immanentes Handeln, egal wie destruktiv oder konstruktiv, auf etwas das auf einen metaphysischen Glauben der auf „Reformen bis hin zu einer besseren Welt“ beruht. Das ergibt zeitweise vollkommen Sinn und behagt auf dem ersten Blick vielen. Es erklärt womöglich auch warum gerade in Krisenzeiten umso mehr die Demokratie idealisiert wird.

Ich will mich entfremden von diesen Werten und Utopie und ihr Verlust wäre mir willkommen. Dabei brauche ich tatsächlichen Abstand und Zeit um zu erlernen andere Träume träumen zu können. Ich brauche Diskussionen mit Menschen die ähnliche Zweifel hegen und der Realität feindselig gegenüberstehen. Ich brauche den Raum um praktisch experimentieren zu können und um Werkzeuge zu erschaffen die die Welt aus den Angeln hebeln sollen. Ohne den Hoffnungsschimmer von entfernten Utopien. Sisyphus, der Frevler, wurde dazu verdammt auf ewig einen Felsblock auf einen Berg zu schleppen, der ständig wieder ins Tal rollt. Was wird Sisyphus sich kurz vor dem Berggipfel denken? Und was wird er sich denken während er seinen Stein immer wieder runter rollen sieht? Könnte er sich nicht dazu entscheiden sich gegen seine Verdammung aufzulehnen?