Im Herbst 2019 fegte ein rebellischer Wind über die Erde. Verstreut über den Globus lehnten sich Menschen gegen Korruption, Armut, Kapitalismus und Autorität auf. Jedoch vertrieben die Covid-19 Pandemie und die Maßnahmen der Herrschenden zu ihrer Eindämmung die Proteste erst einmal von der Straße.
Die staatlich verordnete und erwünschte Paralyse der Bevölkerung konnte jedoch nur kurz greifen, denn schon bald erkannten die Ausgebeuteten, dass die Ursachen ihrer Unterdrückung und Not nicht bei einem Virus zu finden sind, sondern im kapitalistischem System. Umso heftiger entzündeten sich weltweit Streiks, Krawalle oder massive Aufstände. Sei es aufgrund der Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, die sich bis zum Zugriff der staatlichen Kontrolle auf den eigenen Körper ausweiteten, der Brutalität, mit der die Sicherheitskräfte überall die Ausgangssperren versuchten durchzusetzen oder aus purer Notwendigkeit, nicht am Hunger zu sterben.
Diese Karte versucht den Blick darauf zu lenken, dass es an vielen Orten den Menschen ein für alle mal reicht, die Zustände als gegeben zu betrachten.
Dabei bildet sie einen Ausschnitt dessen ab, was in den Massenmedien hierzulande kaum Erwähnung findet. Ein Anspruch auf Vollständigkeit kann nicht erfüllt werden, täglich kommen neue Nachrichten hinzu, entflammen heftige Proteste irgendwo auf der Welt. Wir mussten im Prozess der Enstehung der Karte erkennen, dass es nicht möglich ist, die sich rasant entwickelnde weltweite Dynamik auf der Straße in einem statischen Bild zusammenzufassen.
Karten sind in der westlichen Tradition verwurzelt, die Welt entdecken, forschen, kartieren und archivieren zu wollen. Sie sind dementsprechend nicht neutral oder universell gültig, sondern Ausdruck der Machtverhältnisse. Wer sie erstellt, hat die Deutungsmacht und bestimmt, was existiert und was nicht. Genauso auch in diesem Fall. Doch ist es ein Versuch, den eurozentristischen Blick auf die Welt ein Stück weit aufzubrechen.
Belarus
Die bereits in den vorangegangenen Monaten brodelnde Protestbewegung gegen die belarussische Regierung und ihren Diktator Lukashenko, der seit 1994 an der Macht ist, brach angesichts der als manipuliert geltenden Wahlen am 9. August massiv aus. Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes rebellieren die Menschen von den Groß- bis zu den Kleinstädten gegen die Diktatur. Hunderttausende Menschen versammeln sich, errichten Blockaden und verlieren in den Kämpfen auf der Straße ihre Angst gegenüber den Sicherheitskräften. In den darauf folgenden Tagen wird unter anderem die größte Mine des Landes in Soligorsk, als auch viele andere (staatliche) Unternehmen bestreikt. Die Solidarität unter den Protestierenden ist groß, am 16. August demonstrieren bspw. Zehntausende in Brest vor dem dortigen Gefängnis und fordern die Freilassung aller Gefangenen, woraufhin überraschenderweise Einige freigelassen werden. Die Repression der Regierung auf die Proteste ist hart, tausende von Menschen wurden bereits festgenommen, mehrere Demonstrierende ermordet, die Sicherheitskräfte geben scharfe Schüsse ab. Ein Merkmal der neuen Protestwelle ist ihre Dezentralität, es gibt keine führende Organisation oder Gruppe. Seit 2017 sind Anarchist*innen die einzige politische Kraft, die auf der Straße agitiert und sich nun auch an diesen Kämpfen beteiligt.
Irak
Auf den anfänglich über Soziale Medien verbreiteten Aufruf, am 1. Oktober 2019 gegen Korruption, Arbeitslosigkeit und das konfessionalistische System auf die Straße zu gehen, folgten landesweite Anti-Regierungsproteste mit Angriffen auf kapitalistische und politische Symbole sowie Platzbesetzungen, die gegen die Sicherheitskräfte verteidigt wurden. Sie erzwangen unmittelbar den Rücktritt des Ministerpräsidenten Adil Abdul-Mahdi im November 2019, was die Proteste wiederum nicht eindämmen konnte. Auf den besetzten Plätzen organisieren sich die Menschen selbst und bauen eigene Infrastrukturen, wie Krankenhäuser, Schulen oder Bibliotheken auf. Auch das Fehlen sozialstaatlicher Sicherungssysteme, die hohe Arbeitslosigkeit oder die Arbeit als Tagelöhner*innen führte während des Ausnahmezustands ab Ende März 2020 zu einer dramatischen Zuspitzung der sozialen Verhältnisse. Wie in vielen anderen Ländern leiden vor allem Frauen* unter der Ausgangssperre, Femizide und häusliche Gewalt nehmen zu: „Für viele Frauen im Irak ist die Quarantäne schon lange Lebensrealität“.
Mit dem erneuten Aufflammen der Proteste wurde der al-Tahrir-Platz in Baghdad wieder zu einem der zentralen Orte der Kämpfe, die trotz der brutalen Repression, durch die bereits mehrere hundert Menschen aufgrund der Gewalt der Ordnungskräfte starben, weiter andauern.
Iran
Nach nunmehr 40 Jahren repressiver Herrschaft durch die selbsternannte islamische Regierung der sogenannten Revolutionsgarden reißen die subversiven und offensichtlichen Proteste gegen die Unterdrückung und Brutalität durch das Regime nicht ab. Stets und andauernd üben die Menschen kleine Akte des Widerstandes; Musik auf der Straße, Frauenkonzerte oder Mißachtung der islamistischen Verschleierungsvorgaben, die nicht einmal mehr Beschreibungen im Koran entsprechen. Die Leute finden sich immer wieder zu lautstarkem, solidarischem, gemeinsam organsierten Protest auf den Straßen des Iran zusammen. So bspw. zur Zeit des arabischen Frühlings 2011, Winter 2017 und so auch wieder im letzten Winter 2019. Wobei die Einschätzung umgeht, dass die letzte Protestwelle eine der stärksten, gewaltvollsten Proteste gegen das Regime seit langem waren. Viele Banken, Geldinstitute wurden mit Feuer attackiert, religiöse Stätten sowie auch regierungsnahe Militäreinrichtungen wurden angegriffen. Die Demonstrierenden lassen sich schwer auf bestimmbare Personenkreise eingrenzen. Menschen aller Schichten in den ländlichen Regionen, natürlich auch in den Metropolen beteiligen sich immer wieder daran. Es gibt keine Führer*innen oder führende Organsiationen. Meist sind steigende Lebenshaltungskosten Auslöser von Demonstrationen, die sich dann via Internet in Windeseile auf das ganze Land ausdehnen. Nun, im Juli 2020 gehen wieder viele Menschen auf die Straßen, diesmal weil einigen Protestierenden die Todesstrafe droht. Die Proteste zielen aber auch weiterhin und verstärkt gegen die Repression, Korruption, die Ineffizienz der Behörden, die maßlose Ungleichheit und Armut, auf die expansionistischen Ambitionen des Regimes und auf die Kriegstreiber*innen auf der höchsten Ebene der Politik.
Brasilien
Unter dem ultrarechten Präsidenten Brasiliens, der den Coronavirus als harmlos proklamiert und diesen zu Lasten der ärmeren Bevölkerung ignoriert kamen die Menschen selbstorganisiert zusammen. In vielen Favelas haben sich schnell über politisch-ideologische Grenzen hinweg Solidaritätskampagnen zusammengefunden, vor allem für die Nahrungsmittelversorgung. Auch wurden die örtlichen Ladenbesitzer*innen aufgerufen, sich an Spenden zu beteiligen, dabei war auch klar, dass die Spenden von kapitalistischen Unternehmern sowie von öffentlichen Stellen auch etwas mit der Angst vor Plünderungen zu tun haben. Dazu gehen immer mehr Menschen „Für die Demokratie“ und „gegen den Faschismus“ auf die Straße. Bereits Ende Mai schlossen sich in São Paulo eigentlich rivalisierende Fußballfans der vier größten Vereine zusammen und führten die Demonstrationen an. Zuletzt weiteten sich die Proteste auf 20 Bundeshauptstädte aus.
Befeuert werden sie durch die weltweiten Black Lives Matter-Demonstrationen. In Brasilien starben 2019 sechsmal mehr Menschen durch Polizeigewalt als in den USA. 75 Prozent der Ermordeten waren Schwarze Menschen.
Tunesien
Vor allem die Jugend protestiert seit Monaten in der Region Tataouine im Süden Tunesiens gegen die desolate wirtschaftliche Lage und die hohe Arbeitslosigkeit. Die Proteste sind auch eine Reaktion auf dieMaßnahmen gegen das Coronavirus, welche die sozialen Unterschiede noch verschärft haben. Die Festnahme eines Aktivisten löste im Juni derart heftige Angriffe auf die Sicherheitskräfte aus, dass dieser wenige Tage später wieder freigelassen wird. Am 7. Juli 2020 erschiessen die Sicherheitskräfte einen jungen Mann in Remada, wodurch die Proteste noch weiter angeheizt wurden. Außerhalb der Stadt werden die Zufahrtsstraßen zu eine der wichtigsten Ölförderstationen des tunesischen Südens, El-Kamour, blockiert. Mitte Juli verschaffen sich Hunderte trotz der Anwesenheit des Militärs Zugang zu der Station und blockieren sie. Tunesiens Ölindustrie steht auch deswegen im Fokus der Proteste, da die Versprechen der Regierung seit 2017, in der Erdöl- und Gasindustrie Arbeitsplätze zu schaffen, offensichtlich nicht erfüllt wurden.
Bolivien
Bolivien ist eines der am stärksten von der Pandemie betroffenen Länder, bei 11 Millionen Einwohner*innen sind über 100.000 mit Covid-19 infiziert. Gleichzeitig befindet sich das Land seit November 2019 in einem politischen Konflikt, seitdem der bis dato Präsident Evo Morales der MAS (Movimiento al Socialismo) gestürzt wurde und eine rechtsgerichtete, US-gestützte Übergangsregierung die Macht übernahm. Mitte Juli setzten sich tausende regierungskritische Demonstrant*innen in La Paz über die Corona-Restriktionen hinweg, um gegen die zahlreichen Entlassungen von Beschäftigten in der Corona-Krise und gegen Mängel im Gesundheits- und Bildungswesen zu protestieren. Ab dem 3. August fand ein landesweiter Generalstreik als Reaktion auf eine wiederholte Verschiebung der Neuwahlen durch die Übergangsregierung statt. Tausende Menschen, vor allem der indigenen Bevölkerung des Landes, blockierten mehr als hundert Straßen und legten damit einen Großteil Boliviens lahm. Nachdem, neben den Sicherheitskräften, auch paramilitärische, white-supremacist Gruppen die Blockaden angriffen, tauchten in den Sozialen Medien vermehrt Videos auf, in denen sich in den Reihen der Protestierenden bewaffnete Gruppen, bereit zur Selbstverteidigung, präsentierten.
Ca. zwei Wochen später wurde der Streik vom Gewerkschaftsdachverband aufgrund einer Einigung mit der Regierung für den 18. Oktober als Wahltermin für beendet erklärt. Andere Gewerkschaften kündigen aber die Fortführung der Blockaden an, bis die Interimspräsidentn Áñez ihren Rücktritt erkläre.
Simbabwe
Mit den staatlichen Maßnahmen gegen Covid-19 geht eine massive Repression gegen die Bevölkerung in Simbabwe einher. Es kommt zu tagtäglichen Übergriffen von der Polizei und die Regierung benutzt die Covid-Maßnahmen, um jeglichen Protest und Widerstand zu unterdrücken. Während das Gesundheitssystem fast kollabiert und Arbeiter*innen schlecht bezahlt werden, der Bevölkerung eine Hungersnot droht, entschädigt die aktuelle Regierung die in der großen Landreform der 2000er enteigneten weißen Farmer*innen mit 3.5 Millionen Dollar. Als Reaktion auf die zugespitzten sozialen Konflikte kommt es zu Streiks von Krankenpfleger*innen und Ärzt*innen. Die Menschen gehen trotz Demonstrationsverboten auf die Straße, um gegen die Regierung zu protestieren. Der Slogan #ZimbabweanLivesMatter appelliert an eine internationale Solidarität.
Chile
Der Präsident von Chile hat schon langer Zeit keine große Zustimmung mehr in der Bevölkerung. Der fast nahtlose Übergang von der Pinochet-Diktatur zur heutigen neoliberalen „Demokratie“ bringt die Menschen in Aufruhr. Bereits im Dezember 2018 kam es zu vermehrten feministischen Protesten und Zusammenkünften. Diese weiten sich bis heute aus. Hinzu kommt eine gewachsene Solidarität aus der heraus im vergangenen Herbst bspw. Schüler*innen, die eigentlich Tickets für den öffentlichen Nahverkehr besitzen, die Bahnstationen überrannten und Drehkreuze übersprangen. Damit lösten sie eine große Protestwelle gegen steigende Ticketpreise, aber auch gegen die repressive Regierung, aus, die bis ins Frühjar 2020 anhielt und ganz Chile in Aufruhr brachte. Nun, in Zeiten der Covid19-Pandemie können sich die Menschen in den Reichenvierteln den Luxus der Ausgangssperre leisten und bleiben zu Hause, während die ämere Bevölkerung weiterhin zu großen Teilen im Dienstleistungssektor arbeiten geht und sich die Krankheit in den vollen Bussen oder auf den Straßen unter der arbeitenden Bevölkerung ausbreitet. Eine der ärmsten Gemeinden Chiles, Temucu, ist eines der am stärksten betroffenen Gebiete. Hinzu kommt ein marodes Gesundheitssystem, das sich kaum ein*e Bewohner*in Chiles leisten kann. Doch gerade weil die Menschen bereits im Oktober 2019 auch gegen das schlechte Gesundheitssystem auf die Straße gingen, nehmen sie nun ihre Schutzmaßnahmen selbst in die Hand und errichten Barrikaden auf den Zufahrtstraßen in einigen der Gemeinden, um der Ausbreitung des Virus zuvor zu kommen.
Es scheint nicht mehr so unmöglich, dass die einstigen Parolen der feministischen Proteste No+ (nicht mehr) und Somos+ (wir sind mehr), die gemeinsame Kraft auf den Straßen und die gewachsene Solidarität in diesem pandemischen Ausnahmezustand schlussendlich in ein anderes Zusammenleben münden könnte.
Haiti
Seit 2017 steht die von der USA unterstützte Regierung von Jovenel Moïse aufgrund der Veruntreuung von Geldern und Korruption vermehrt in der Kritik. Haiti zählt zu den ärmsten Ländern der Welt. Ab September 2019 kommt es zu massiven Protesten gegen die Regierung und ihre globalen Unterstützer. In Folge eines Treibstoffmangels, welcher u.a. durch die IWF ausgelöst wurde, kommt es zu Straßenblockaden und Angriffen auf die Regierung. Im Schatten der Corona-Pandemie erlässt die Regierung mehrere Maßnahmen, um das aufständische Feuer zu löschen. Laut der John-Hopkins-Universität gab es Ende April lediglich 74 bestätigte Infektionen (bei einer Bevölkerungszahl von 11 Millionen), die größte Gefahr für die Bevölkerung ist der eigene Staat. Während die lokalen Märkte geschlossen werden, bleiben die Fabriken der Großkonzerne weiter in Betrieb. Menschen, welche die Flucht wählen, werden v.a. aus den USA wieder deportiert. Trotzdessen gehen die Proteste und Angriffe bis heute weiter.
Libanon
Im Oktober 2019 kam es zu Protesten gegen den Ministerpräsidenten Saad Hariri, der später seinen Rücktritt bekannt gibt. Ein Auslöser für die Unruhen war die Ankündigung einer Gebühr für das Nutzen von WhatsApp, welche vor dem Rücktritt bereits zurück genommen wurde. Libanon steckte jedoch schon länger in einer tieferen ökonomischen Krise. Die Revoltierenden legten durch Streiks, Blockaden und Sabotagen das öffentliche Leben lahm und forderten den Rücktritt der gesamten Regierung. Die politische Partei und Bewegung, Hezbollah, die sich auf der Seite der Bevölkerung versteht, versuchte die Proteste zu kontrollieren und zu befrieden, dabei wurden sie selber zum Ziel von Angriffen. Nach der Neubildung der Regierung Anfang 2020 gingen die Unruhen weiter, denn die Menschen erkannten, dass sich lediglich das Gesicht vertauscht hatte. Im Februar wird nach wiederholten Angriffen eine Schutzmauer u.a. um das Parlament gebaut. Der Lockdown in Folge der Pandemie führt lediglich zu zwei Tagen „Ruhe“, danach gehen die Proteste weiter, in denen v.a. Frauen* eine wichtige Rolle spielen. Es gibt Sprechchöre wie „Am Coronavirus zu sterben, ist besser als zu verhungern“ und es kommt weiterhin zu Angriffen auf das Militär, Banken und Regierungsgebäude.
Am 4. August detonierten knapp 3 Tonnen Ammoniumnitrat im Hafen der Hauptstadt Beirut, über 200 Menschen starben und mehr als 300.000 Menschen wurden auf einen Schlag obdachlos. Die Brutalität der kapitalistischen Verhältnisse, in denen die Jagd nach Profit bedeutet, dass Menschenleben nur dem Zweck der Ausbeutung dienen und ansonsten nicht geschützt werden, wurde ein mal mehr offensichtlich. In den darauf folgenden Tagen führten massive Proteste gegen die Regierung zu ihrem als auch dem Rücktritt des Ministerpräsidenten Hassan Diab. In einem Flugblatt aus den Straßen von Beirut steht:
„Dies geschah nicht als Folge einer Naturkatastrophe. Dies war nicht das Ergebnis eines Fehlverhaltens oder eines Unfalls irgendwelcher Art. Dies ist auch nicht das Ergebnis des generellen Zustands der Korruption, die hier seit mehr als dreißig Jahren grassiert. Die Explosion vom 4. August 2020 ist ein vorsätzlicher Mord, der gegen das Volk verübt wurde. Es gibt also diejenigen, die geplant haben, diejenigen, die hingerichtet haben, diejenigen, die davon profitiert haben, und diejenigen, die sich jetzt rechtfertigen. […] So begann hier ein Krieg mit Hunderten von Toten, Tausenden von Verwundeten, Hunderttausenden von Vertriebenen und unermesslichen Verlusten. Dieser Krieg hätte vermieden werden können. Es war schon seit vielen Jahren prognostiziert worden. Es hätte verhindert werden können, aber es hat stattgefunden. Die Bombe ging hoch und wir starben. Bleibt die Frage, wie viele Bomben noch auf uns warten. […] Am 4. August 2020 erklärte uns die Regierung den Krieg. Wir unsererseits verkünden den Beginn des Kampfes für die Befreiung.“
Kenia
In Europa kaum beachtet, erlebt Kenia momentan die schwerste Heuschreckenplage seit 70 Jahren. Die staatlichen Maßnahmen gegen die Covid-19 Pandemie lösen eine neue Welle der Polizeibrutalität aus. Seit Ende März sind mindestens 21 Menschen in diesem Zusammenhang von der Polizei erschlagen oder erschossen worden, jetzt sind es möglicherweise schon Viele mehr. Dass die Begegnung mit der Polizei Todesangst auslöst, ist eine Klassenfrage. Auf einen Verstoß gegen die Maskenpflicht steht eine für Viele unbezahlbare Strafe, während schon der Kauf von Masken und Desinfektionsmittel kaum möglich ist. Quarantäne ist Luxus. Es trifft die Bewohner*innen der informellen Siedlungen der Städte, es gibt keine Sozialhilfe, rund 85% der Erwerbstätigen sind selbstständig: Handwerker*innen, Tagelöhner*innen, Straßenverkäufer*innen. Repressionen der Regierung wie die Abriegelung und Schliessung des Marktes Korogocho oder die Räumung der Siedlung Kariobangi in Nairobi lösen Proteste aus, Marktverkäufer*innen und Jugendliche tun sich zusammen, es werden Hauptstraßen verbarrikadiert, Reifen entzündet, Sicherheitskräfte angegriffen, geplündert. In Naivasha wird Mitte Juni als Antwort auf die staatliche Brutalität eine Polizeistation in Brand gesetzt. Ende Juni solidarisieren sich in Lessos Motorrad-Taxifahrer*innen mit einem Kollegen, nachdem dieser aufgrund fehlender Maske festgenommen werden soll. Nachdem ein Mensch erschossen wird, wird die dortige Polizeistation gestürmt und das Haus des Polizeichefs in Brand gesetzt, jedoch sterben zwei weitere Menschen durch Schüsse der Beamten in die Menge.
Malawi
Als der malawische Präsident am 14. April den Katastrophenzustand und eine 21-tägige landesweite Ausgangssperre verkündet, kommt es, vor allem in den größeren Städten Lilongwe, Mzuzu und Blantyre, zu Unruhen. Tausende Strassenverkäufer*innen gehen auf die Straße und kündigen an, sich nicht an die Ausgangssperre zu halten. Wenig später beteiligen sich auch Ärzt*innen und Krankenpfleger*innen an den Protesten und fordern Risikozulagen. Vor Gericht wird die Ausgangssperre erst einmal zurückgewiesen.
Mexiko
Anfang Mai wird in der Stadt Ixtlahuacán de los Membrillos Giovanni López von der Polizei ermordet, nachdem er wegen dem Nichttragen einer Maske verhaftet worden war. Ende Mai schwappt der Aufstand gegen Rassismus und Polizeigewalt aus den USA auf Mexiko über. In verschiedenen Städten Mexikos entlädt sich die Wut über die staatliche Gewalt, auch die US-Botschaft in Mexiko-Stadt wird angegriffen. Ende Juli kommt es zu wütenden Protesten von Landarbeiter*innen gegen Wasserzahlungen an die USA, mehrere Streifenwagen, Regierungsgebäude und eine Mautstation werden angezündet sowie Schienen blockiert.
In Mexiko war es außerdem in letzter Zeit zu größeren feministischen Protesten gekommen. Vor den Ausgangssperren, am 8.März diesen Jahres gehen 200.000 Menschen auf die Straße, so viele wie nie zuvor. Mit dem Ruf #NiUnaMás (Keine Mehr) richten sich die Proteste gegen geschlechterbasierte patriarchale Gewalt, in Mexiko-Stadt wird unter anderem das Regierungsgebäude sowie eine Kirche angegriffen. Überall werden feministische Slogans gesprüht. Am 9. März müssen Konzerne wie Audi und Volkswagen aufgrund des Frauen*streiks für einen Tag schließen.
Hongkong
Nachdem in den ersten Monaten der Covid-19 Pandemie auch die Proteste (s. Kanaille No. 2) aus der Öffentlichkeit verschwinden, treffen sich die Menschen mittlerweile auf der Straße wieder. Ende Juni wird ein neues Sicherheitsgesetz für Hongkong erlassen, welches die Autonomie der Stadt weitestgehend beendet und den Polizei- und Überwachungsstaat noch weiter ausbaut. Am 1. Juli lassen sich Zehntausende nicht von den harten Strafandrohungen einschüchtern und beteiligen sich an der traditionellen Demonstration zum 23. Jahrestag der Übergabe Hongkongs aus britischer Kolonialherrschaft an China. Zum einen wird die Unabhängigkeit Hongkongs gefordert, zum anderen drücken die Menschen ihre Wut über die staatliche Kontrolle in direkten Konfrontationen mit der Polizei aus.
Italien
Nach Ankündigung von Besuchsverboten kommt es ab Anfang März zu Revolten in italienischen Gefängnissen.
Curaçao
Der (früheren) Kolonie Curaçao wurden zwar 2010 Autonomierechte zugestanden, die Niederlande haben jedoch die Hoheit über Militär und Verteidigung. Vom Tourismus sowie der Ölförderung durch Venezuela abhängig, ist die Wirtschaft aufgrund der Pandemie stark eingebrochen. Im Juni ist die Hälfte der Bevölkerung, ca. 80.000 Menschen, von Essensmarken abhängig. Die Ankündigung drastischer Sparmaßnahmen und die u.a. damit verbundene Entlassung von Müllwerker*innen führt Ende Juni zu einem sozialen Aufstand. Vor allem Jugendliche und Müllwerker*innen leisten gegen die Sozialkürzungen Widerstand, errichten Barrikaden und stürmen den Regierungspalast. Auch Mitarbeiter*innen der lokalen Ölraffinerie sowie der Elektrizitätsbetriebe schließen sich den Demonstrierenden an. Die Regierung antwortet mit Tränengas und Festnahmen, die niederländische Armee wird mobilisiert, um staatliche Gebäude zu schützen.
Madagaskar
Nachdem am 3. Juni ein Straßenverkäufer von den Bullen verprügelt wird, weil dieser sich nicht an das nachmittägliche Verkaufsverbot im Rahmen der Corona – Maßnahmen gehalten habe, kommt es in Toamasina auf Madagaskar zu Krawallen. Autoreifen werden angezündet, Sicherheitskräfte angegriffen und Straßen blockiert. Die Proteste richteten sich gegen den Umgang der Regierung mit dem Coronavirus im Allgemeinen. Als Reaktion auf die Unruhen reagiert der Staat mit dem Einsatz des Militärs, das nun auch die Einhaltung der Coronaregeln durchsetzen soll. Eine Kellnerin kommentiert diesen Einsatz mit den Worten: „Ich verstehe es nicht, wir sind hier nicht im Krieg […] Wir kämpfen gegen einen unsichtbaren Virus, und sie schicken das Militär statt Ärzte“.
Serbien
Anfang Juli, als die Zahlen der Corona-Infizierten wieder stark angestiegen sind, verkündete der Serbische Präsident Vučić, das Land erneut in den Lockdown zu führen. Als Reaktion darauf versammelten sich spontan mehrere tausend Menschen, vorwiegend jugendliche und Studierende, und stürmten das Parlamentsgebäude in Belgrad und lieferten sich Auseinandersetzungen mit den Bullen. Überrascht von den Ereignissen, bringt sich der Staatsapparat ab dem zweiten Tag in Stellung und versucht sich die Demonstrierenden mit brutaler Gewalt vom Leibe zu halten. Was vorerst jedoch nicht gelang. Die Unruhen werden knapp eine Woche anhalten. Die Zusammensetzung der Protesttierenden verläuft dabei nicht entlang eines klassischen links/rechts-Schemas. Obwohl einerseits nationalistische Gruppierungen mitmischen, die stets versuchen die Konfrontationslinie entlang ethnischer und religiöser Grenzen zu ziehen, und dem Präsidenten der einst selber in der rechtsextremen Serbischen Radikalen Partei Karriere machte, vorwerfen seine Ideale verraten zu haben. Anderseits beteiligten sich auch Linke und Liberale der Oppositionsparteien an den Protesten und versuchten sich an deren Spitze zu setzen. Ein Großteil der beteiligten jedoch, fühlt sich keinem politischen Lager verbunden und ist vor Allem geeint in ihrer Wut auf die korrupte Regierung, ihren repressiven Charakter und autoritären Führungsstil, welcher im Rahmen der Corona-Maßnahme noch deutlicher zum Vorschein trat.
USA
Nach der Ermordung von George Floyd durch einen weißen Polizisten am 25. Mai, kommt es erst in Minneapolis und dann im ganzen Land zu umfangreichen Revolten. Diese werden von einer Vielzahl direkter Aktionen gegen Symbole des Kapitalismus und der weißen Macht und Vorherrschaft begleitet. Unter anderem wurden bereits dutzende Streifenwagen angezündet und eine Wache niedergebrannt. In Seattle entstand temporär eine Autonome Zone und auch an anderen Orten gibt es Bemühungen, die Bullen aus der Nachbarschaft zu vertreiben. Parallel dazu kommt es zu einer Reihe von Hungerstreiks in den Knästen und Arbeitsniederlegungen, um gegen den fehlenden Schutz vor Corona zu protestieren. An manchen Orten, bspw. in Portland, halten die Unruhen bis heute an.