Der unwahrscheinliche Gipfel der Wahrheit

Ein*e Bergsteiger*in hat nur eins vor Augen, sein Ziel, der Gipfel. Ein Großteil der Konzentration widmet sich der Vorbereitung. Ein strategisches Vorgehen ist erforderlich. Das Unvorhersehbare soll berechnet und somit vorhersehbar gemacht werden. Zu Zeiten, als es noch keine hoch entwickelten Technologien gab, verließen sich die erfahrenen Bergsteiger*innen in erster Linie auf ihre Erfahrung, dann auf das fachliche Wissen und dann auf die Technik. Heutzutage ist es die Technik, die das Abwägen und Einschätzen, schlicht die Erfahrungswerte, zweitrangig macht. Die mathematischen Algorithmen, mit denen die ganzen Apparate gespeist werden, sind Früchte der theoretischen Wissenschaften, sei es die Mathematik, Physik oder Meteorologie. Die Wissenschaft und ihre Entdeckungen sind die Grundpfeiler jeder angewandten Wissenschaft und somit Vorreiter des technologischen Fortschritts. Der Glaube an die produzierte Wahrheit der Wissenschaft lässt uns nur selten an ihrer Echtheit zweifeln. Im Gegenteil. Viel verführerischer ist es, sich ihrer anzunehmen und blindlings zu vertrauen. So wird jede wissenschaftliche Ausgeburt angepriesen und verehrt als ein modernes Totem, womit aber keine Verbindung mit Naturerscheinungen gesucht wird, sondern eine seelische Befriedigung durch die gottähnliche Wissenschaft. Mögliches Resultat: Der*Die Bergsteiger*in starrt auf seine*ihre Messgeräte und Bildschirme und sieht nicht mehr wie eine Lawine auf ihn*sie zu kommt.

Der/die eben erwähnte Bergsteiger*in steht stellvertretend für eine Menschheit die immer mehr eine technologische Abhängigkeit erlebt und sie nicht mehr als fremdbestimmt und potenziell feindlich wahrnimmt. Das Beispiel des Totems zeigt historische Parallelen mit dem menschlichen Drang, das Unerklärliche zu verstehen und das was nicht zu verstehen ist, zu mystifizieren oder zu verdammen. Die Wissenschaft dient dem Verständnis der Realität, doch haben in der Menschheitsgeschichte meistens die Machtstrukturen die Kontrolle über die Wissenschaft und ihre Forschung, dementsprechend spiegeln sie den Willen der Machthaber*innen wieder. Es stellt sich die schwierige Frage…gibt es denn überhaupt eine Wahrheit, die absolut für die Gesamtheit der Menschen gültig sein kann? Der Glaube an irgendeine Wahrheit, sei sie wissenschaftlicher oder religiöser Natur, ist eine Sackgasse, die einem aber angeblich verspricht, einen Ausweg, eine Lösung für alle Probleme zu finden. Die Hoffnung durch die Religion die Erlösung zu erfahren, ist der Hoffnung an ein unversehrtes und ewiges Leben durch die Wissenschaft-Medizin-Technologie gleichzusetzen. Der Mensch braucht Hoffnung, ansonsten wäre er verloren… eine andere unumstößliche Wahrheit? Birgt die Hoffnung an die Wahrheit nicht auch die Möglichkeit der Enttäuschung in sich, ergo das Leid ist unumgänglich? Bei so manchen schwachen Momenten können solche Zweifel aufkommen, aber dann drängt sich die Angst vor der Hoffnungslosigkeit auf und es wird sich wieder an jeglichen Hoffnungsschimmer (in Form von Technologie, Medizin, Religion u.- o. Rechtsstaat) geklammert.

Es gibt auf dieser Welt viele Menschen, Strukturen, Sekten, politische Gruppierungen und deren Ideologien, die diese angebliche „Wahrheit“ und die Verlorenheit für ihre Zwecke verstanden haben zu benutzen. Eine dieser Gruppierungen, die in den letzten Monaten in die Öffentlichkeit trat, ist Extinction Rebellion. Sie reden von einer Wahrheit, die alle möglichen Wissensbereiche zusammenfasst, sei es die Statistik, Biologie oder Geographie. Alles deutet darauf hin, dass die Menschheit dem Ende nahe ist und nicht nur diese Spezies und andere, sondern der ganze Planet. Es soll an dieser Stelle nicht darum gehen, ihnen das Gegenteil zu beweisen, sondern darum, inwiefern der Glaube an die wahrhaftige Vernunft, die durch die Wissenschaft erzeugt wird, das Handeln beeinflusst und zwar so weit, dass Wörter wie „Rebellion, Aufstand, tiefgreifender Wandel“ so hin geschustert werden, dass sie perfekt in ein demokratisches Weltbild passen, in dem jegliche „Gewalt“ verdammt wird und nur der friedliche Protest legitim ist. Anstatt dieses Weltbild, das verantwortlich ist für Krisen auf dieser Erde, von Grund auf zu erschüttern, wird dem sensibilisierten Menschen ein Komplettpaket an Aktivismus verkauft, das „garantiert“ die Hoffnung verspricht. Die Überzeugungsarbeit erfolgt durch die Verbreitung von „objektiven“ Fakten, die zum Handeln anregen sollen. Anstatt jedoch dem ganzen Spektrum der menschlichen Emotionen freien Lauf zu lassen, werden manche Gefühlszustände bewusst versucht zu unterdrücken. Die Ineffizienz jeglicher gewalttätigen Handlung, die möglicherweise eine unkontrollierte Wut beinhalten kann, wird durch wohl recherchierte Forschungsergebnisse von friedlichen, gewaltfreien, erfolgreichen historischen Protesten untermauert (wie Gandhi in Indien). So soll der*die moderne Rebell*in möglichst nur positive Gemütszustände (wie z.b. Liebe) erleben und durch versprochene Erfolgserlebnisse bezirzt und animiert werden, sich weiterhin für die Sache aufzuopfern. So gesehen ähnelt Extinction Rebellion eher einer der vielen anderen politischen Dienstleister, bei dem die Konsument*innen sich aufgehoben und mit dem Angebot zu Frieden gestellt werden. Die krasse Empörung über die weltweite Umweltzerstörung soll möglichst innerhalb eines vorgegebenen Spielraums ausgelebt werden. Siehe die 10 Prinzipien. Der größte Widerspruch liegt jedoch darin, dass wenn durch die Forschung vorhergesagt wird, wir kurz vor dem Aussterben stehen, dann müsste die selbe Forschung sehr wohl erkennen, inwiefern sie selber zum drohenden Untergang beigetragen hat. Mehr noch. Die selben Forscher*innen, Techniker*innen, Spezialist*innen, Akademiker*innen sollten sich mal fragen, woher sie denn die ganzen verdammten Gelder und Infrastrukturen für ihre Forschungen haben! Denn würde es keine öffentlichen oder privaten Fördermittel und einen „Wissenschaftsmarkt“ geben, würden ihre vermeidlichen Erfolge nicht vermarktbar sein, so wären die meisten Superbrains wohl arbeitslos.
Es ist illusorisch zu hoffen und zu verlangen, dass irgendeine Regierung auf der Welt sich grundsätzlich der Forderungen dieser Bewegung annimmt. Auch wenn sich so manche Forderungen auf den ersten Blick ganz nett anhören, so bleiben sie jedoch abhängig davon ob die Staatsgewalt sie erhört und duldet. Wie soll man sich vorstellen, auf der einen Seite zu wissen, dass die Politik und die Wirtschaft erst den Weg der Umweltzerstörung geebnet haben, um sie dann andererseits mit einem Lächeln auf dem Mund darum zu bitten, nun doch noch etwas dagegen zu tun, um das Schlimmste zu verhindern. Das Problem ist die Macht, die von den Regierungen und der Wirtschaft ausgeht. Sie ist es, die das globale Zusammenleben zwischen Mensch und Natur prägt und wie wir gerade miterleben, es langfristig und unwiderruflich zerstört. Solange die Macht und die Machtverhältnisse nicht offensichtlich erkennbar gemacht und angegriffen werden, wird sich kaum etwas ändern. Dieser Gedanke soll aber keine wissenschaftliche These sein, die irgendjemand irgendwo hinterm Schreibtisch entdeckt hat und nun überprüfen soll, sondern es soll ein Ansporn sein, diese Gedanken am eigenen Leib auszuleben, u.a. in dem die notwendige gezielte Gewalt, Freude an der Wut und der gelebten Zerstörung der Machtstrukturen und Verhältnisse maßgeblich ein schöpferischer Teil unseres Bewusstseins und Handelns werden.

Wenn bei Extinction Rebellion die Rede von einem „Kreislauf aus Aktion, Reflexion und Lernen“ ist (siehe Prinzip Nummer 5) kann das vielleicht heißen, dass sich Menschen, die diese Zeilen lesen sich vielleicht bewegt und stimuliert fühlen, diese kritischen Gedanken in ihren Alltag, politische Perspektiven und Debatten mit einzubauen. Dies soll keine Hoffnung von den Kritiker*innen an Extinction Rebellion ausdrücken, geschweige denn ein Boykottversuch an der Bewegung. Es sind Erkenntnisse aus konkreten Erfahrungen von den Auswirkungen bei der Verbreitung radikaler Ideen innerhalb sozialer Bewegungen, die in einem bisher legalistischen Kontext agieren. Die Auswirkungen führen meist zu Streit und evtl. Spaltungen zwischen gehorsam und ungehorsam/kontrollierten und unkontrollierten Handeln, denn auch Gewaltfreiheitspflicht ist schlicht ein Gebot, dem es zu gehorchen gilt. Die Oberschicht einer jeden Bewegung befürchtet insgeheim die Kontrolle über ihre Schäfchen zu verlieren. Wenn sie fühlt, wie der Boden unter ihren Füßen bröckelt, werden umso blinder Hasstiraden über die bösen Chaot*innen in die Welt posaunt. Es wird sich zeigen, wie Extinction Rebellion damit umgehen wird. Wird die Gewaltfrage wieder mal eine Bewegung zerstreuen? Oder versteht sie es wirklich, ihre Absichten und Methoden zu reflektieren?

Spannend ist es eben, den Qualitätssprung von einer sozialen Bewegung zu einer revolutionären Bewegung mitzugestalten, ausgehend von den Menschen, die sich nicht als Mitglied eines formellen Zusammenhanges unter einem Symbol vereint sehen, aber dennoch mitmischen wollen. Genauso spannend ist das mitreißende Erlebnis von denen mitzubekommen, die merken, dass die angelegten Ketten nicht nur länger sein können, sondern auch mögliche Schwachstellen aufweisen. Es kann nicht das Ziel sein dich als Mensch zu steuern, sondern dich zu inspirieren, den weltweiten Zustand der Ausbeutung und Autorität eigenständig zu verstehen und zum Zerbersten zu bringen. Spätestens wenn eine Bewegung sich bewusst oder unbewusst an die Grenzen der Legalität begibt, dann wird sie früher oder später die schmerzhaften Grenzen der Demokratie erfahren. Spätestens in diesem Moment wird sich wahrscheinlich jeglicher wissenschaftliche Fetisch und Staatsglaube in Luft auflösen. Und jede*r Einzelne*r wird sich fragen müssen… lasse ich es über mich ergehen und knie nieder oder schlage ich zurück?