No Leader, Be Water

Wie die Rebellierenden HongKongs ein Bild aus der Zukunft zeichnen

Es gibt immer wieder diese Momente, in denen irgendwo auf der Welt ein Konflikt eskaliert, der uns dann fast täglich in der Presse oder im Netz begegnet. Manchmal können wir auf Anhieb was damit anfangen, uns mit den Protagonist*innen identifizieren oder in ihren Taten Absichten erkennen, die uns vertraut sind und so eine Verbundenheit entsteht. Manchmal aber, verlieren sich diese Nachrichten im Informations-Wirrwarr des Internets. Haben wir keinen direkten Bezug dazu, schenken wir ihnen wenig Beachtung, obwohl sie eigentlich eine Menge Interessantes in sich tragen. Ein Grund dafür könnte sein, dass viele Momente von Revolten und Aufständen im letzten Jahrzehnt außerhalb der herkömmlichen Parameter einer traditionellen Linken stattfanden. Und das ist auch gut so. Doch bedeutet dies auch, das wir soziale Konflikte, die Zusammensetzung ihrer Akteur*innen oder ihre Beweggründe, zu kämpfen, oft nicht verstehen. Nun, es liegt an uns, die Offenheit und Neugier zu besitzen, sich trotzdem auf die Suche zu machen, um Gemeinsamkeiten und Affinitäten erkennen zu können.

„Liberate HongKong – Revolution Of Our Time“*

In Hongkong, einer der wichtigsten Drehscheiben des Kapitalismus auf dem asiatischen Kontinent kommt es seit Monaten zu Massenmobilisierungen, welche sich im weiteren Verlauf zu beeindruckenden Krawallen, begleitet von einer Vielzahl direkter Aktionen, entwickelten. Die Eindrücke von den Menschenmassen in den Hochhausschluchten sind imposant und zeichnen ein Bild, wie eine Revolte in einem entfremdeten, urbanen Terrain einer hochtechnologisierten Metropole und Gesellschaft sich ihre Wege bahnt. Die westlichen Medien sind dabei bemüht, darin eine bloße „Demokratiebewegung“ zu erkennen. Die militanten Auseinandersetzungen werden entweder heruntergespielt oder als Reaktion auf die Polizeigewalt dargestellt. Diese Erzählung ist jedoch nur die halbe Wahrheit, aber nicht weiter überraschend. Sind doch die westlichen Staaten vor allem daran interessiert, die Position Chinas zu schwächen, welche mit ihrer Expansionspolitik in Konkurrenz zu den eigenen Interessen steht. Da kommt jede Protestbewegung, die sich gegen die Macht der Volksrepublik richtet, gelegen. Wer sich etwas mehr damit beschäftigt, kann jedoch erkennen, dass sich eine ganze Generation voller Wut die Straßen Hongkongs aneignet. Bestimmt keine homogene Masse, sondern ein Zusammenschluss verschiedener politischer Hintergründe und sozialer Gruppen. Schüler*innen, Student*innen, Arbeiter*innen, Lehrer*innen und andere öffentliche Angestellte stehen dabei für eine Vielfalt von Aktionsformen. Dazu gehören Demos, Kundgebungen, Straßenblockaden, Flash- Mobs, Besetzungen, öffentliche Versammlungen, Memes in sozialen Medien, Graffitis, Lennon Walls (Infos auf Post-it-Zettel) und vieles mehr. Aber eben auch Angriffe auf die Staatsmacht und Symbole der Herrschaft. Firmen, Banken und Reisebüros der Volksrepublik China werden zerstört, Metrostationen angegriffen, Kameras sabotiert und Polizei- und Regierungsgebäude kaputt geschlagen. Vereint sind sie in ihrem Wunsch nach Freiheit und der Angst vor einem schleichenden Übergang in einen Polizei- und Überwachungsstaat, der sich am Horizont bereits abzeichnet.

„Ihr seid diejenigen, die mir beigebracht haben, dass friedliche Proteste nichts bringen.“*

Ausgangspunkt dieser Mobilisierungen war bereits im Februar, als die Regierung Hongkongs ein Auslieferungsgesetz ankündigte. Dieses sah vor, dass erstmals die Auslieferung vermeintlicher „Krimineller“ von der Stadt Hongkong, welche 1997 von Großbritannien an China zurück gegeben wurde und seitdem ein halbautonomer Teil mit „besonderen demokratischen Rechten“ ist, an das Regime der KPCh möglich wäre. Anfangs gab es mehrere friedliche Demos, welche an die Erfahrungen der Regenschirmbewegung von 2014 anknüpften, als mehrere Zehntausende wochenlang auf die Straßen gingen und „freie Wahlen“ forderten. Damals ohne Erfolg. Als sich nun erneut abzeichnete, dass die Regierung nicht gewillt ist, einzulenken und das geplante Auslieferungsgesetz weiter verfolgte, wuchsen die Mobilisierungen im Juni auf bis zu 2 Millionen Menschen an und es kam vermehrt zu Auseinandersetzungen mit den Bullen. Als die Straßenkämpfe heftiger wurden, sah sich die Regierung gezwungen, das Gesetzesverfahren vorerst einzustellen, ohne es jedoch ganz zurück zu ziehen. Ein deutlicher Bruch hatte aber bereits stattgefunden und die Regierung das Vertrauen von großen Teilen der Bevölkerung eingebüßt. Anfang Juli wurde aus einer Demonstration heraus das Parlamentsgebäude gestürmt und verwüstet. In den folgenden Wochen weiteten sich die Proteste auf weitere Stadtteile aus. Die Aktionen wurden flexibler, um dem Gegner immer einen Schritt voraus zu sein. Die Philosophie Bruce Lee‘s „sei formlos, sei wie Wasser“ wurde zum Leitspruch der Rebellierenden. Auf Führungsfiguren wurde und wird bewusst verzichtet und Kommunikation untereinander sowie Entscheidungsprozesse laufen vor allem über Chat- Gruppen und verschlüsselte Messenger- Dienste. Methoden und Taktiken wie der schwarze Block wurden übernommen und von Tag zu Tag weiterentwickelt. Die Regenschirme sind dabei geblieben und haben, neben Vermummung und Brillen, eine wichtige Funktion zum Schutz vor Kameraüberwachung und Bullen eingenommen. Aber auch di
e handfeste Zerstörung von Überwachungstechnologie ist eine weit verbreitete Maßnahme gegen die Identifizierung und Verfolgung durch Sicherheitsbehörden. So wurden reihenweise „smarte“ Laternenmasten umgesägt, welche mit Sensoren, intelligenten Kameras und Datennetzen ausgestattet sind. Es wird befürchtet, dass diese mit Gesichtserkennungssoftware bestückt sind und China mithilfe dieser persönliche Daten sammelt. Auch Alufolie wird auf Demonstrationen verteilt, um Telefone, Kreditkarten mit kontaktloser Bezahlfunktion sowie die Smart-Identity-Card, welche die Hongkonger*innen bei sich tragen müssen, gegen den Zugriff abzuschirmen.

„Unter dieser Maske befindet sich eine Idee. Und Ideen sind kugelsicher.“*

Anfang September hat die Regierung das geplante Auslieferungsgesetz dann gänzlich verworfen. Der Bewegung ging es aber längst um weit mehr und sie ließ sich nicht durch dieses Entgegenkommen abspeisen. Daraufhin wurden viele Demonstrationen verboten, was zur Folge hatte, dass Versammlungen nun noch schneller in Auseinandersetzungen mit den Bullen endeten und das Ausmaß der Gewalt auf beiden Seiten heftiger wurde. Auf Tränengas, Gummigeschosse, Schlagstockeinsätze und vereinzelt sogar Schusswaffengebrauch wurde mit Lasern, Zwillen und Molotows geantwortet. Polizeistationen wurden teils mehrmals die Woche angegriffen. Um die Beteiligung an den fortwährenden Protesten zu erschweren, hat die städtische U-Bahn Gesellschaft MTR regelmäßig Stationen in den Protestregionen dicht gemacht. Dies führte dazu, dass diese immer wieder Angriffen ausgesetzt sind und nicht selten auch in Brand gesetzt werden. Parallel dazu wurden über Telegram Netzwerke für Fahrgemeinschaften gebildet, die stattdessen die Leute von A nach B bringen und stets bereitstehen, um das Wegkommen nach Krawallen zu ermöglichen. Aber auch eine Reihe anderer Telegram-Chat- Räume haben sich im Laufe der Ereignisse gebildet. So finden die Revoltierenden, neben den Aufrufen für kommende Aktionen, darüber auch Wohnungen, wo sie willkommen sind, oder praktische Tipps z.B. zum Zerstören von Fahrscheinautomaten.

„Capitalism is shit!
The Chinese Communist Party is capitalist“*

Am 4. Oktober erliess die Regierung auf der Grundlage eines Notstandgesetzes, das seit 1967 nicht mehr zur Anwendung kam, ein Vermummungsverbot. Ein weiterer Versuch, die Bewegung zu zügeln und durch Repressionsandrohungen die Kontrolle zurück zu erlangen. Nun entschied ein Gericht, dass so ein Verbot verfassungswidrig sei. Unbeeindruckt davon ist diese Maßnahme eher ins Gegenteil umgeschlagen und hat die Revoltierenden in ihrer Haltung gegenüber der Regierung bestärkt. Seit dem 8. November ist der erste Tote durch die Bullen zu beklagen, nachdem der 22 jährige Alex Chow nach einer Hetzjagd von einem Parkhaus stürzte. Solche Ereignisse wirken wie Öl im Feuer. Die Besetzungen der Universitäten in den darauf folgenden Wochen und der Showdown an der Politechnischen Universität, wo Besetzer*innen sich tagelang eine wilde Schlacht mit den Bullen lieferten und der Belagerung durch diese trotzten, ist nur die logische Konsequenz daraus. Es unterstreicht sowohl die Entschlossenheit der Rebellierenden einerseits, als auch die Verzweiflung die sich unter ihnen breit macht, angesichts der Tatsache, dass der Staat an diesem Punkt keinen Millimeter zurückweicht. So gehen die Mobilisierungen und Konfrontationen ungebrochen weiter und es bleibt fragwürdig, ob die Politik überhaupt in der Lage sein wird, das Ganze entweder durch Härte oder Zugeständnisse wieder befrieden zu können. Denn mittlerweile tragen die Beteiligten wertvolle kollektive Erfahrungen von den Kämpfen in sich und dürften in großen Teilen eine offene Feindschaft gegenüber den Autoritäten entwickelt haben. Viele sitzen im Knast oder haben sich schwere Verletzungen zugezogen, die sie noch lange an die Gewalt des Staates erinnern werden. Offen bleibt dabei die Frage, ob sich antikapitalistische Positionen innerhalb der Bewegung gegen pro-westliche, nationalistische oder vereinfachte China-feindliche Stimmern durchsetzen werden und so eine revolutionäre Perspektive mit emanzipatorischem Charakter weitere Verbreitung finden wird.

„We won`t return to normality,
because Normality was the Problem“*

* Graffitis in Hongkong