Über die Waldbrände unter Bolsonaro und koloniale Kontinuitäten
„Unser Haus brennt“ twittert der französische Präsident Macron im August, kurz vor dem G7-Gipfel in Biarritz, Frankreich. Die deutsche Regierung pflichtet bei. Auf Twitter setzen mehr als 1,5 Millionen Tweets mit dem Hashtag #PrayforAmazonas in wenigen Tagen einen Trend. Plötzlich ist das Amazonasgebiet ein populäres Thema. Wer kann, positioniert sich und nutzt die kurze Spanne der Aufmerksamkeit für den Verkauf von Schlagzeilen, politische Heuchelei oder verfällt einer Form des Betens mittels Klick und Tastatur. Jedoch, die Bilder des brennenden Urwaldes senden eine eigentlich unmissverständliche Nachricht. Es ist die uralte Geschichte, dass sich die Menschheit im Kapitalismus durch den Raubbau an der Natur und ihren Ressourcen ihre eigene Lebensgrundlage vernichtet und dass es so nicht weitergehen kann. In einer Zeit, in der die Diskussionen um den Klimaschutz hoch kochen und eine diffuse Angst vor der Zukunft herrscht, finden diese Informationen, gespeist mit apokalyptischen Bildern, plötzlich und kurz Empfänger*innen und werden zum Politikum. Geschenkt, dass auch hier Wälder gerodet werden, zum Beispiel der Hambacher Forst zugunsten des Braunkohleabbaus von RWE. Die altbewährte Devise der Politik heißt: ferne Probleme lenken von den Eigenen ab und schüren die Einheit.
Unpopulär und deswegen verschwiegen wird, dass die Ursache der Brände in der Invasion indigener Territorien liegt, dass diese wiederum in direktem Zusammenhang mit internationalen Handelsbeziehungen und kolonialer Ausbeutung steht und seit Jahrhunderten die Menschen im Amazonasgebiet gegen die Zerstörung des Waldes kämpfen, in dem sie leben. Fernab der Metropolen des globalen Nordens also, deren Versorgungsketten und Wohlstand auf Kosten anderer Regionen brutal gesichert werden und wo die unmittelbaren Auswirkungen der zerstörerischen kapitalistischen Produktionsweise noch am geringsten zu spüren sind. Für die indigene Bevölkerung Brasiliens ist der Schutz der Umwelt in vielerlei Hinsicht eine unmittelbare Frage der Existenz.
Wälder, wie das größte zusammenhängende Waldgebiet der Erde im Amazonasgebiet, welches sich vor allem auf vom Staat Brasilien beanspruchten Territorium befindet und 61% dessen Fläche ausmacht, wirken wie eine Art großer Filter für Kohlendioxid. Wird an dem Wald weiter Raubbau betrieben und dieser komplett abgeholzt werden, würden an die Atmosphäre etwa 50 Milliarden Tonnen Kohlenstoff pro Jahr freigesetzt. Tropische Regenwälder sind feuerempfindliche Ökosysteme, da die Böden karg und nährstoffarm sind. Die Nährstoffe sind in den Pflanzen gespeichert, brennen diese ab, gehen sie verloren. Die dünne Humusschicht wird nach einem Waldbrand schnell ausgewaschen, spätestens drei Jahre nach dem Feuer wächst in dem ausgelaugten Boden nichts mehr. Im Gegensatz zu einer an das jeweilige Ökosystem angepassten Nutzung, sind es die seit der Kolonisierung dominanten Wirtschaftszweige, Landwirtschaft, Viehzucht und der Abbau von Rohstoffen im Bergbau, die zur (Brand-)Rodung riesiger Flächen für Monokulturen und Massenproduktion führen. Beinahe die Hälfte der Exporte Brasiliens sind landwirtschaftliche Güter: Soja, Zucker, Kaffee, Kakao, tropische Früchte, Rind- und Hühnerfleisch und das für die luxuriöse Innenausstattung beliebte Tropenholz. Deutschland ist dabei eines der wichtigsten Exportländer. Auch Infrastrukturprojekte, wie die Errichtung von Wasserkraftwerken oder Hochspannungsleitungen, der Bau von Bundesstraßen und Eisenbahnlinien tragen die Zerstörung des Waldes als Ziel in sich. Die scheinbare Notwendigkeit des Fortschritts richtet sich gegen die, teils isoliert lebenden, indigenen Völker. Sie sollen in die brasilianische Gesellschaft „integriert“, das Amazonasgebiet verwertet werden.
Die Schutzgebiete, die dort, wo es nicht mehr der brasilianische Staat tut, von den Menschen, die diese seit jeher bewohnen, selber demarkiert werden, sind den Vertreter*innen des Kapitals, des Agrarbusiness und der mit der Ausbeutung mineralischer Rohstoffe befassten Industrien seit jeher ein Dorn im Auge. Ihr Ziel ist es, diese aufzuheben und abseits davon, die Umwelt- und Arbeitsschutzgesetze aufzuweichen und die Landlosenbewegung politisch zu bekämpfen. In der Regierung von Jair Bolsonaro haben sie dafür eine Lobby gefunden. Nach den Wahlen im Oktober 2018 übernahm der weiße Ex-Fallschirmjägerhauptmann ab Januar 2019 mit seiner Partei Partido Social Liberal die Macht: ein demokratisch gewählter Faschist, der sich positiv auf die Militärdiktatur von 1964 bis 1985 bezieht und Unterstützung aus evangelikalen, nationalistischen und neoliberalen Lagern bezieht. Seit seinem Amtsantritt steigt die Invasion des Territoriums indigener Völker stark an. Dass dies auch bereits unter vorherigen, linken Regierungen passierte, zeigt, dass das einzige Interesse eines Staates darin besteht, die Ordnung in dem beanspruchten Territorium aufrecht zu erhalten, um das Kapital zu schützen. Milizen und Todesschwadronen, von Großgrundbesitzer*innen und Unternehmen angestellt und Arbeitsfeld ehemaliger Polizist*innen, vertreiben und ermorden diejenigen, die sich gegen die Landnahme schützen und wehren. Und so kommt es, dass Brasilien eine der Regionen ist, in der die Zahl der ermordeten Umweltaktivist*innen weltweit am Höchsten ist. Seit 2002 sollen es etwa 653 Hinrichtungen sein. Sicher sind nicht alle Morde bekannt. Zuletzt, am 1. November, wurde Paulo Paulino Guajajara im brasilianischen Bundesstaat Maranhão im Nordosten des Landes von Holzfällern erschossen. Die Guajajára gründeten 2012 die Gruppe Guardiões da floresta (Wächter des Waldes), welche Patrouillen gegen Rodungen organisiert, um ihren Lebensraum gegen die landwirtschaftliche Expansion zu verteidigen.
Mit verantwortlich für diese Situation sind die Unternehmen und die Politik der reichen Länder des globalen Nordens. Freihandelsabkommen wie der EU- Mercosur- Pakt sollen die Exporte nach Europa schrankenloser ankurbeln. Die heuchlerischen Interventionen dieser Staaten in Positionierung gegen die Waldbrände laufen entlang ihrer eigenen ökonomischen Interessen, in Kontinuität seit 1492. Weltweit profitieren Unternehmen von der Ausbeutung natürlicher Ressourcen, investieren und importieren. Sei es die weltweit größte Fondsgesellschaft BlackRock Inc., dessen Aufsichtsratvorsitzender in Deutschland der CDU- Politiker Friedrich Merz ist, oder das Unternehmen Acai-GmbH, das Bio-Smoothies herstellt und in Bioläden wie Alnatura teuer als hippes Superfood an die deutsche Öko-Linke verkauft. Jedoch, auch wenn Regierungen, Unternehmen und ihre Antreiber*innen vielfältig zur Verantwortung gezogen werden können, muss man nicht dem Schrei nach stärkeren Gesetzen oder dem Verzicht auf einzelne Konsumangebote verfallen. Die weltweiten Geschäftsbeziehungen sind systemimmanent und das Problem ist die kapitalistische Produktionsweise. Denn dort, wo Rohstoffe vorhanden sind, findet Landraub statt. Wo die Natur verwertet wird, werden ökologische Katastrophen produziert. Für die optimale Verwertungsmaschinerie müssen Menschen, abhängig durch ökonomische Zwänge, wie Sklav*innen arbeiten und werden dabei gegeneinander in Stellung gebracht. Der Staat, egal wie demokratisch die Maske sein mag, dient der Aufrechterhaltung dieser Funktionsweise und der faschistische Staat ist die brutalste Form, um dem Kapital zu dienen.
Dass Jair Bolsonaro über den Vorschlag Macrons, die Brände im Amazonasgebiet auf dem G7-Gipfel ohne die Beteiligung der Länder der Region zu besprechen, von einer „kolonialistischen Denkweise“ spricht, bleibt auf der Ebene der politischen Diplomatie. Ein Machtkampf der Herrschenden, der Eliten und Politik, untereinander, bei dem die Regierten überall auf der Welt nur die gesichtslose Masse für Taktierei und politisches Spiel darstellen sollen. Es ergibt sich die Notwendigkeit, dass sich die Klimakämpfe hier mit den antikolonialen Kämpfen der Menschen im Amazonasgebiet und in den Städten des vom brasilianischen Staat dominierten Territorium verbinden. Über die weltweit konstruierten Grenzen hinweg, im Konflikt mit jenen, die auf die Herrschaft von Einigen über Andere setzen. Denn Klimaschutz ist weder ein Thema des nationalen Heimatschutzes, noch der Förderung der Entwicklung neuer Technologien, sondern ein Kampf für Perspektiven jenseits der kapitalistischen, (neo-)kolonialistischen Ausbeutung von Mensch und Natur.
Rückgriff auf die Militärdiktatur
In den Metropolen São Paulo und Rio de Janeiro kam es im Oktober 2018 aufgrund von Fahrpreiserhöhungen im Nahverkehr zu Zusammenstößen mit der Polizei, im Jahr 2013 hatten sich deswegen Demonstrationen zu landesweiten sozialen Unruhen ausgeweitet. Während in Chile in diesem Herbst bereits das Militär auf den Straßen war, verwundert es nicht, dass Anfang November Eduardo Bolsonaro, der Sohn des Präsidenten und Kongressabgeordneter, sich öffentlich auf den institutionellen Akt 5 (AI-5) bezog, sollten die Proteste rund um das vom brasilianischen Staat dominierte Territorium auch auf dieses überschwappen. Das Dekret AI-5 vom Dezember 1968 läutete damals die schlimmste repressive Phase der Militärdiktatur (1964-1985) ein.
Es scheint momentan, als ob an vielen Orten die alte Welt aus den Fugen geraten würde und die Rebellierenden sich nicht mehr nach Hause schicken lassen. Der Staat reagiert auf die Unruhen, mit aller Brutalität umklammert er die Ordnung und ruft zum Krieg. Zahlreiche Tote, Vermisste, Verletzte, sexualisierte Gewalt und Gefangene sind eine Folge dessen. Anarchist*innen aus Uruguay schrieben in einem Beitrag im Oktober zu Militarisierung und sozialem Krieg: „Unabhängig von ihren Regierungen haben sich die Staaten in den letzten Jahren immer mehr militarisiert. Die Straßen sind mit verschiedenen technologischen Geräten und Truppen gefüllt, egal ob sie blau oder grün sind. Polizei und Militär sind nach wie vor wichtige, aber zunehmend diffuse Kategorien. Das Kapital verteidigt sich, Städte explodieren, früher oder später stößt das ständige Ertrinken auf Widerstand […] Bei der nächsten kapitalistischen Umstrukturierung, beim nächsten Justieren an unseren Hälsen, werden wir wieder allein sein mit denen, die ebenfalls ausgeschlossen sind. Lassen wir uns nicht auf sie ein, lasst es uns ihnen nicht einfacher machen. Wir wollen alles, wir verhandeln nichts.“