Warum eine anarchistische Straßenzeitung?

Sicherlich ist es eine Kunst, Dinge und Ideen klar auszudrücken. Nichtsdestotrotz geht es darum, diese ohne Umwege zu sagen oder eben auf Papier zu bringen. Wir verstehen uns als Anarchist*innen, weil wir die Umwälzung aller Verhältnisse und die Zerstörung jeglicher Herrschaft wollen und danach handeln. Die Perspektive ist eine freie Gesellschaft ohne Autoritäten, auf der Basis freier Vereinbarungen. Im Grunde sind dies einfache Sachen. Doch das stimmt nicht ganz. Denn Subversion und Anarchie sind nicht einfache Sachen. Davon zu reden, die Worte in den Mund zu nehmen, bestimmt. Es geht jedoch darum, die Wörter und Sätze verständlich zu machen. Darin liegt die Schwierigkeit und zugleich die leidenschaftliche Anstrengung. Eine Straßenzeitung wie die Kanaille, die an verschiedenen Ecken der Stadt verteilt wird, am Späti, Buchladen oder in einer Bar ausliegt, oder die du in deinem Briefkasten findest, ist ein Beitrag dieser leidenschaftlichen Anstrengung.

Jeden Tag erscheint eine Masse an Informationen und Berichten, von denen die allermeisten den Anschein einer Neutralität und Objektivität geben wollen. Dahinter versteckt sich jedoch meistens ein politisches oder ökonomisches Interesse. Es sind diese politische Taktirereien, Rhetoriken, kaschierten Lügen, Intrigen der Macht, welche ihre Absichten in der Masse der Texte vernebeln. Wir lassen uns hier jedoch nicht auf das Spiel ein, den Anarchismus und die Anarchie als eine Option innerhalb des politischen Schachbretts ins Feld zu führen. Jene, und nicht nur Anarchist*innen, die dies versuchten, wurden selbst zu Verteidiger*innen der Herrschaft – die Sozialdemokratie, Linke und Syndikalist*innen können ein Lied davon singen. Nein, die anarchistische Propaganda muss einen anderen Weg gehen, um eben nicht in die Fallen der Macht zu treten und dadurch Teil von ihr zu werden. Diese Falle, die sich heute in Form der demokratischen Herrschaft zeigt, in der es Meinungsfreiheit gibt, Informationen fließen,… aber nur bis zum demokratischen Rand, um die Herrschaft in keinster Weise zu gefährden. Denn heute bedeutet Freiheit immer nur die Freiheit des Staates und Kapitals. Die schädlichen Absichten des Anarchismus für jegliche Macht, wie sie auch in dieser Zeitung propagiert werden, verstecken sich nicht hinter einer Pseudo-Neutralität, journalistischer Kunst, oder Anderem, um im gleichen Atemzug (versteckt) eine politische Agenda zu propagieren oder auf dem kapitalistischen Markt zu bestehen. Nein, diese Seiten versuchen schonungslos und offen die Trennlinie zwischen den Liebhaber*innen der Freiheit und den Feinden und Blender*innen zu ziehen. Um mit Worten oder Taten dort zu treffen, wo es der Herrschaft wirklichen Schaden verursacht. Analysen und Methoden zu schärfen, um die bestehenden Verhältnisse aus den Angeln zu heben. Und dies nicht irgendwo in einem Elfenbeinturm, sondern in den Straßen und Ecken, in denen wir uns bewegen und diese Zeitung auftaucht.

Da stehen wir nun, den Mund offen, damit die einfachen Worte rauskommen. Nicht zu predigen und nicht die Arroganz einer Avantgarde, eines heiligen Retters einzunehmen, der die Menschheit vom Elend befreit. Nein, es ist der Versuch die Propaganda der Anarchie in die Gesellschaft zu tragen, nicht zugunsten einer größeren Anhänger*innenschaft, für mehr Bekanntheit, sondern damit sie sich einen Weg bahnt, der die Unterdrückung und Ausbeutung zerschlägt. Dieser Weg bahnt sich als erstes durch einen selbst (die individuelle Revolte), um dann zu einem generalisierten Aufstand wachsen zu können. Eine anarchistische Zeitung ist ein Beitrag für diesen rebellischen Pfad, an dem es nicht mangeln darf. Die subversive Kraft eines Textes, wie auch eines direkten Angriffs, besteht in der Verständlichkeit. Und wir wehren uns gegen die Illusion, Begriffen oder Ideen einen praktischen Sinn zu geben, in dem man sie hier und da mal erwähnt. Die Verständlichkeit besteht in einer wechselseitigen Kommunikation und einer Analyse, davon ausgehend wo man steht. Gerade deshalb ist eine anarchistische Straßenzeitung nicht das einzige Mittel zur Kommunikation, aber ein Mittel, welches in Berlin fehlte. Die Schönheit der Anarchie liegt sicherlich in ihrem vielfältigen Repertoire des individuellen oder kollektiven Ausdrucks. Die Perspektive ist immer noch die soziale Revolution. Diesem Wort jedoch einen Sinn zu geben und zu seiner auch praktischen Verständlichkeit beizutragen, besteht darin, anarchistische Beiträge auf bestehende soziale Probleme zu geben.

Aber vielleicht ist der soziale Kampf für eine Welt ohne Herrschaft, ein Kampf gegen Windmühlen. Und eine Zeitung als Beitrag dazu sinnlos, weil für die meisten Menschen durch Smartphone, Twitter und Co. Informationen in 140 Zeichen passen müssen. Wer liest dann noch einen Text über drei Seiten? Und geschweige denn, setzt sich mit diesem auseinander? Schlägt ein Wort nach, wenn man es nicht versteht? Aber meistens liegt es nicht mal daran. Sondern, dass die Macht, die Demokratie, der technologische Fortschritt, die Definition von Freiheit und Selbstbestimmung nach ihrem Verständnis in Stein gemeißelt haben. Also was labern die Anarchist*innen da von Freiheit, meine Freiheit ist da wo W-Lan ist. Aber vielleicht auch nicht? Es gibt Menschen, die die heuchlerische Freiheit der Demokratie für sich entlarvt haben. Weil z.B. die bestehende Freiheit an deinen Geldbeutel, deinen Pass oder ein anderes Papier gebunden ist. Und sie sehen, dass eben die bestehende Freiheit immer nur die Freiheit der Herrschaft von Staat und Kapital ist. Also vielleicht ist es ein Kampf gegen Windmühlen, aber vielleicht auch nicht. Wir gehen die Wette ein!

Allem voran wählen wir bewusst diesen Weg. Denn der Aufstand und die Umwälzung der Verhältnisse, zur Zerstörung aller Machtverhältnisse, ist ein soziales Ereignis. Die Geschichte zeigt, dass der Kampf einer Elite, isoliert und ohne gesellschaftliches Verständnis, in einer anderen Form der Herrschaft endet. Auch wenn sie sich noch so revolutionär versteht. Eine Gegebenheit, die bereits die ersten Anarchist*innen verstanden hatten. Die Analyse und Hypothese des Aufstandes als soziales Ereignis wehrt sich also gegen ein militärisches Verständnis der Revolte. Die Zeitung ist ein Mittel, sich einen Weg durch den sozialen Dschungel zu bahnen. Sie ist ein Mittel zur Suche nach Affinitäten und Vertiefung von Beziehungen, unabhängig ob es sich dabei um eine Entstehung oder Vertiefung mit einer*m Gefährtin*en handelt oder mit einer*m bis dato Unbekannten. Worte ,die sich an all jene richten, die es satt haben wie Marionetten zu leben, die es leid sind, die Lügen zu hören, die es nicht mehr hinnehmen wollen, bloß von den Krümeln zu leben, die vom Tisch fallen. Wir sehen die Erfahrung, diese Ideen in den „öffentlichen Raum“ zu streuen und einen Widerhall zu hören, als eine Notwendigkeit für die eigene revolutionäre Analyse des Bestehenden. Damit sich eben das Handeln und die kritische Auseinandersetzung nicht auf einen luftleeren Raum beziehen oder aus den „Wolken gegriffen“ sind, sondern auf einer sozialen Realität basieren, in der es möglich wird subversiv zu handeln. Diese Sichtweise richtet sich gegen die Annahme, einen „privaten“ Krieg gegen den Staat, den Kapitalismus und seine Verteidiger*innen zu führen – in der alle drumherum als Statist*innen verweilen. Die subversive Sprengkraft liegt in der Diversität von Angriffen und Attacken und innerhalb eines gesellschaftlichen Verständnis dieser — und mit diesem Verständnis ist in keinster Weise ein Opportunismus gemeint. Dieses Verständnis, Bewusstsein oder wie man es nennen will, fällt nicht vom Himmel, dem liegt kein „historischer Materialismus“ zugrunde, sondern eine kontinuierliche und konkrete anarchistische Propaganda. Diese Hypothese ist es, von der wir ausgehen und ein Projekt wie eine anarchistische Straßenzeitung in Berlin beginnen, um eben jene Hypothese zu prüfen und zu vertiefen. Auf den Punkt gebracht: eine Zeitung als anarchistischer Beitrag im sozialen Krieg von Unten in Richtung sozialer Aufstand.

Nun hältst du hier die zweite Nummer der Kanaille in der Hand. Diese Ausgabe beschäftigt sich in mehreren Beiträgen mit der „Klimafrage“. Diese verstehen wir nicht bloß als eine ökologische Frage, sondern auch als eine soziale. Die Situation des Amazonas in Brasilien ist nicht eine „natürliche Katastrophe“, sondern das Produkt der bestehenden Machtverhältnisse. Der Kapitalismus ist dabei sich zu restrukturieren, neben der Digitalisierung versuchen er und seine Verfechter*innen ihm einen grünen Mantel überzuziehen. Die E-Mobilität, mit ihrem Datensammelwahn und den prekären Arbeitsbedingungen, ist wahrscheinlich eine der besten Verdeutlichungen dieser Entwicklung. Die Meisten von uns sind gezwungen, sich für die Lohnarbeit oder zum Konsumieren fortzubewegen. Ständig hetzen wir von A nach B, aber gibt es auch ein dazwischen? Klar ist, Mobilität ist Teil der Herrschaft. Den Preis, den wir dafür zu zahlen haben, bedeutet für viele eine Existenzfrage. Deshalb führen die Preiserhöhungen für Benzin oder öffentlichen Verkehr immer wieder zu Revolten, oder, wie wir aktuell in Chile beobachten können, zu einem generalisierten Aufstand. Während wir diese Zeilen schreiben, kracht es überall auf der Welt. Ob Chile, Hong Kong, Ecuador, Haiti, Kolumbien, Spanien, Libanon, Frankreich, Lybien, Indonesien, Irak, Iran, usw. Die kapitalistische Herrschaft und der Neoliberalismus fordern ihren Tribut, den immer weniger Menschen bereit sind zu zahlen. Die Militarisierung und technologischen Entwicklungen der letzten Jahren verändern die Bedingungen des sozialen Krieges. Wie ein Massenaufstand in einer durchtechnologisierten Gesellschaft aussehen kann, zeigt momentan die Situation in HongKong. Einige Beiträge zur Umwälzung der Verhältnisse aus unseren Breitengraden zeigen aber auch, dass es ebenfalls hier etliche Menschen gibt, die den scheinbaren „sozialen Frieden“ aufgekündigt haben und die Herrschaft mit direkten Angriffen zu konfrontieren bereit sind. Eine extreme Strafe gegen das Rebellieren oder Unangepasstsein ist der Knast. Das Wegsperren ist eine institutionalisierte Form der Bestrafung. An dieser Stelle grüßen wir alle Gefangenen, die diese Zeilen und Zeitung lesen. Und vor allem die Gefangenen, welche uns zur letzten Ausgabe Briefe geschrieben haben. Wir haben uns darüber sehr gefreut und schicken hiermit Grüße raus!