Manipulation der Sinne

Sucht und Technologie
Teil 1: Digitalpakt mit dem Teufel

Heute stehen Kinder und Heranwachsende vor einer Zukunft, die geprägt sein wird durch eine Hysterie: das neue Heilsversprechen, die digitalen und smarten technologischen Entwicklungen. Das Makabre daran ist, dass Kinder in einer technologisierten Gesellschaft zu Süchtigen werden. Sie werden durch bestimmende Algorithmen um ihre eigene Lebenserfahrung entmündigt. Die Marktschreier*innen der digitalen und smarten Welt aus dem Silicon Valley, wie die Mitarbeiter*innen von Google, Microsoft und Apple, schicken jedoch ihre Kinder nicht etwa in voll automatisierte digitalisierte smarte Schulen, sondern in Waldorfschulen, in denen kein elektronisches Gerät zu finden ist. Stattdessen gibt es nur naturbelassene Stoffe zum Anfassen.

Hier soll es nicht um eine Verbesserung von einem schon immer repressiven Schulsystem gehen, sondern darum, wie eine digitale und smarte Verwertung und Zurichtung des Menschen in der Schule auf neue Weise geplant wird. Die Schule ist nicht abgekoppelt von der Wirtschaft, sondern ist schon immer Teil davon. Wie die Bundesregierung gerade dieses Jahr zur Offensive für Digitalisierung und Künstliche Intelligenz auf allen Ebenen bläst, so sollen die Schulen und Kitas gleichzeitig ihr technologisches Repertoire aufrüsten. Der Bund und die Länder machen Milliarden locker für den „Digitalen Bildungspakt“, um die smarte digitale Vernetzung in Kindergärten und Schulen voranzutreiben. Eines ist für mich sicher: nicht weil sie um unsere Gesundheit und Bildung für kritische Individuen mit emanzipatorischem und kreativem Reflexionsvermögen besorgt sind, sondern um nicht den wirtschaftlichen Anschluss zu verlieren. Der neue kapitalistische Absatzmarkt und sein unendliches Wachstum ist alles, was sich als digital, smart und demnächst auch im „grünen“ Antlitz verkaufen lässt. Es sind Konzerne wie Apple, Google oder Microsoft und Dienstleister wie die Telekom, die ihre Produkte und Dienstleistungen verkaufen wollen und mit Digitaltechnik in den Schulen und Kitas anrücken.

Um ein Beispiel aufzuzeigen: in Großbritannien beispielsweise wurden flächendeckend Smartboards in jedem Klassenzimmer eingeführt. Dies wird auch in Deutschland gemacht. Das Versprechen, das durch Smartboards Zeit für Kreativität und Spontanität freigesetzt wird, wurde gebrochen, indem die Anzahl der technischen Probleme den Alltag in Schulen zersetzt. Ständiges Piepen, leere Akkus und andere Störungen können kein intensives Lernen ermöglichen. Ein Smartboard kostet ca. 5000 Euro. Sie sind sehr anfällig und so kommt es zu 13.000 Neukäufen in Großbritannien innerhalb eines Jahres. Man stelle sich vor, wie viele Leute davon eingestellt werden könnten, um eine individuellere Betreuung von Kindern und Jugendlichen zu gewährleisten.

Diejenigen, die Bildungs- und Fortschrittsverheißungen des letzten Jahrhunderts verfolgt haben, wissen, dass schon in den 20er Jahren durch das Kino und Plattenspieler das Ende von Büchern in den Schulen ausgerufen werden wollte. 50 Jahre später gab es mit dem Fernseher ähnliche Heilserwartungen, wie mit dem Computer oder dem Smartphone heute. Bücher und Menschen sollen obsolet werden und Maschinen uns bedienen, die Arbeit, die Anstrengung und das Lernen abnehmen. So wie bei der Industrie 4.0 Maschinen die Produktion selbständig steuern sollen, sollen Computer und Algorithmen das Bildungsgeschehen autonom steuern. Die IT-Branche ersetzt die kapitalistische Elite, indem sie durch kybernetische (selbstregulierende) und behavioristische (konditionierende) Manipulation die lebenslange Steuerung des Menschen für industrielle Macht, Konsum und Verwertungsinteressen vorbereitet. Da das überwachte „Ich“ für die neue Generation bereits Normalzustand bedeutet, soll schon im Kindergartenalter die Entwicklung, oder besser gesagt, die Manipulation zum süchtigen Untertan für und mit diesen neuen Medien beginnen. Die Zukunftsvision: Schüler*innen sitzen vereinzelt am Tablet, werden überwacht und gesteuert von Algorithmen, Pädagog*innen werden zu Statist*innen oder über den Bildschirm zugeschaltet. Das Scheitern von E-Learning, Sprachlaboren und programmiertem Lernen vor einem Bildschirm funktioniert nicht, Erfahrungen und Erkenntnisse brauchen soziale Bindungen und direkte Kommunikation.
Wodurch funktioniert die Manipulation? Das Gehirn ist wie ein Muskel. Wenn es nicht gebraucht wird, verkümmert es. Das Gehirn lernt durch wahrnehmen, tasten, hören, schmecken, denken, erleben, fühlen, riechen, anfassen, handeln – dabei bilden Synapsen Verbindungen, Erfahrungen und Lernen passiert. Der unmittelbare Kontakt zur Welt und zu anderen Menschen ist dabei unverzichtbar. In der digitalen Welt reduziert sich alles auf 2-3 Sinne. Je vielfältiger die Kinderjahre mit Bewegungsaktivitäten gefüllt werden, um so optimaler wirkt sich das auf die Reifung emotionaler Funktionen aus. Denn Kinder sind auf vielfältige körperliche Bewegungen angewiesen, um reale Erfahrungen in Raum und Zeit im Gehirn zu verankern. Laufen, klettern, purzeln, balancieren sind und bleiben deswegen die initialen Stimulationen, ohne die sich Verschaltungen in den motorischen und nachgeschalteten Hirnregionen nicht normal auszubilden vermögen. Die ersten zwei Lebensjahrzehnte sorgen für zunehmende Differenzierung der Nervennetze im Kortex und immer feiner werdende Muster von Verschaltungen in kortikalen Rindenfeldern – etwa durch schreiben, rechnen, lesen. Um daraus neue Gedächtnisinhalte und geistige Entfaltung entstehen zu lassen. Beim Wischen auf einem aalglatten Bildschirm findet all das nicht mehr statt! Wenn Computer, Tablets und Apps das Lernen bestimmen, finden die Voranbahnungen von differenzierten Verknüpfungen nicht statt, die zeitlebens eine notwendige Grundlage für das Denken sind. Wie Einstein sagte: „Lernen ist Erfahrung – alles andere ist Information“.

Emotionale und soziale Denkfähigkeit brauchen also eine unmittelbare Auseinandersetzung mit anderen Menschen, also eine face to face Kommunikation. Um Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen, ist es unerlässlich, zu lernen, die Emotionen anderer zu erkennen und darauf zu reagieren. Die Fixierung auf eine Wisch- Bildschirm-Technologie im Alltag verhindert direkte zwischenmenschlichen Beziehungen und reduziert die Gelegenheiten, etwas über die Welt und ihre Umgebung zu erfahren. Soziale Medien und Apps sorgen dafür, dass eine sofortige Belohnung (glücklichmachende Dopaminausschüttungen), vor allem bei Kleinkindern bis zum Jugendalter in den Fokus gerät. Normalerweise lernen Kinder Schritt für Schritt u.a. auch ihre Gefühle zu regulieren, wenn mal was schief geht, indem sie sich in kleinen Projekten selbst Ziele setzen. Ein ständiger Zugriff auf digitale Medien verspricht sofortige und immer währende Belohnung. Freude über etwas selbst Geschafftes zu haben wird dadurch komplett genommen. Die Endgeräte ermöglichen es den Menschen so vor allem auch Konflikten aus dem Weg zu gehen. Dadurch wird eher Konfliktunfähigkeit und auch Obrigkeitshörigkeit erlernt.

Wenn wir für einen Moment inne halten, ist es offensichtlich, dass das digitale Leben – vor dem Computer sitzen oder auf das Smartphone stieren – Kindern die Zeit stiehlt, die sie für ihre individuelle Reifung und dafür erforderliche Spiele, Sport, Musizieren, Malen, Basteln, Herumtoben und auf Bäume Klettern brauchen. Das alles wissende Smartphone in der Schultasche und der jederzeitige Zugriff auf das World Wide Web entbindet automatisch von der Anstrengung, sich Wissen, kreatives Denken und Bewusstsein eigen zu machen. Insgesamt beteiligen wir uns alle an einer Entmündigung und Entfremdung (nicht nur) der Kinder, das Leben selbst erforschen und erfahren zu können.

Schlussfolgernd fördern wir wissentlich, aber mit einem schlechten Gewissen (mein Kind könnte ausgeschlossen sein) psychische und physische Entwicklungsstörungen. Vor allem die Sucht nach dem Bildschirm. Klar, Kinder aber auch Erwachsene essen lieber Süßigkeiten anstatt Gesundes, klar sind aber auch Verknüpfungen von mangelnder Ernährung und mangelnder Bewegung. Klar ist ein Smartphone auch mal eine gute Ablenkung für das quengelnde Kind einer alleinerziehenden Person. Klar ist auch, das eine Spielkonsole billiger als eine Geige und Fastfood billiger als Bioessen ist, doch um so klarer sind hier die kapitalistischen Auswirkungen auf unser Leben zu sehen.

in der nächsten Ausgabe…
Teil 2: Der Flow im Dopamin