Tagebruch Tragebesuch Tagebuch

Tag 34

Ein Kind? Mein Kind? Meine Tage bleiben aus. Unormal.

Tag 35

Ich habe ein paar Tests gemacht. War bei der Ärztin, auch sie bestätigt erste Verdachtsmomente als etwas das wird. Ist es schon? Was ist es?
Ich habe nicht viel Geld zum Leben. Der Erzeuger auch nicht. Der will ohnehin wegziehen. Muss er machen. Der verirrte Samen war nicht geplant. Die Welt ist groß und durchzogen von einer kapitalistischen Ordnung, die alles durchdrungen hat und durchdringt. Und Ordnung ist dafür sogar das falsche Wort; es ist Brutalität aus Gier und Überlebensdrang. Und das Gewicht dieser Brutalität ist zugunsten hiesiger LängenBreitengrade geneigt. Wenn ich mir ernsthaft die Frage stelle, habe ich sogar schon Probleme zu akzeptieren, dass dieses Kind qua Geburt mit einem deutschen Pass versehen ist. Deutsch bedeutet Privilegien und Qual zugleich. Leben in Bequemlichkeit, sofern es sich an das hier auf Bürokratie bestehende System als Opfer in aller Bringschuld optimal angepasst hat. Aber auch ein anderer Wohnort befreit nicht von der Unterwerfung unter die kapitalistische Ordnung, die sich jeweils andere Vorzeichen gibt. Nicht hier, nicht auf dieser Welt. Ich will kein Kind. Ich will keine ausschließende Liebe nur dem Meinen gewidmet. Ich will keine Eigenen.

Tag 44

Es war so klar. Ich habe es drauf ankommen lassen und der Ärztin erstmal nix von meinen Abbruchplänen erzählt. Ich wollte wissen, wie die reguläre Schwangerschaftsuntersuchung heutzutage abläuft. Es läuft genauso menschenverachtend wie gedacht. Ich bin Anfang 40. Die Ärztin riet mir zu Untersuchungen. Ja warum wohl? “Dem Schaden vorzubeugen.” Schaden!? Anders gesagt; bitte kein Kind, das anders ist. Was sie in dem Moment noch nicht weiß; in meiner Familie ist das Andere ein Geschenk. Mein jüngerer Bruder ist zunächst ohne Weiteres auf die Welt gekommen, bis er im Alter von fünf Jahren eine Infektion hatte, durch diese er Diagnosen bekam, nach denen er nun als behindert gilt. Rollstuhl, Kommunikation mit Sprachcomputer, manchmal kann er das Wasser aus seinem Mund nicht halten.

Ich keife die Ärztin an, was diese Euthanasie 4.0- Scheiße soll. Leute wie mein Bruder, die erst später Komplikationen bekommen, werden doch auch nicht getötet. Vor allen Dingen braucht es Menschen die gebürtig mit Sachen auf die Welt kommen. Sie erleben ihre Körper und Fähigkeiten als Normalität und sind die Wenigen, welche Normalität in der tatsächlichen Vielfältigkeit und Komplexität vermitteln können. Mein Bruder hat Freund*innen, die von Geburt an Diagnosen haben und deren Selbstbewusstsein uns zum Vorbild geworden ist. Für Einige ist es normal alles über die Ohren zu erfahren und nicht über die Augen, Andere leben konsequent das Moment der Entschleunigung; sie müssen gemütlicher laufen, sich Zeit für alles nehmen. Ebenso sind Viele über das nichtbehinderte Normalmaß hinaus empathiefähig, um all die Normalos in ihrer Ignoranz und Arschlochhaltung von den Guten unterscheiden zu können. Oder die Faszination ob der schier grenzenlosen Merkfähigkeit von Leuten mit Sachen aus dem Autismusspektrum. Wir haben das Glück seine Freund*innen zu kennen, die mit Witz und Offenheit einen Umgang leben, der seinesgleichen sucht. Sie sind es auch, die uns mit den Erzählungen vergangenen Kämpfe inspiriert haben.

Mit der Diagnose “behindert” ist die Lebenswelt der Meisten sehr eingeschränkt: Sonderschule, Werkstatt, Wohnheim. So möchte keine*r freiwillig leben und doch wird es kaum in Frage gestellt. Nachdem die Nazis bis 1945 fast alle Ihrer ermordet haben, wurde die erste Generation Ende der 70er, Anfang 80er erwachsen. Es entstand die selbsternannte Krüppelbewegung. Forderungen nach einem Leben in Selbstbestimmung und Abschaffung der Verwaltung behinderter Menschen in institutionalisierten Einrichtungen. Zur gleichen Zeit wurde in der DDR, entgegen der regulären Verwahranstalten und Sondereinrichtungen, die selbstorganisierte Alternative im thüringischen Hartroda gegründet. Im christlichen Deckmantel lebten dort Behinderte mit Nichtbehinderten unter einem Dach zusammen. Sie waren ein Anziehungspunkt für Hippies, Freaks und sogar im Austausch mit westdeutschen Punks und Antifa. Später nahmen sie an den Versammlungen und Aktionen gegen den DDR-Staat teil. Die Stasi nannte sie in den Akten “Parasit”.

Die westliche Krüppelbewegung schrieb Empowerndes in ihrer regelmäßig erscheinenden “Krüppelzeitung” und im UNO-Jahr der Behinderten 1981 wurden, neben einem selbstorganisiertem Krüppeltribunal, die offiziellen Veranstaltungen der Herrschenden gestört. Unter anderem wurden Podien besetzt, Veranstaltungen gestört und dem Bundespräsidenten Klaus Carstens wurden auf dem Weg zur Festrede so die Krücken zwischen die Beine gehauen, dass er stürzte und verletzt erstmal nicht mehr auftreten konnte.

Im Laufe der Jahre und Jahrzehnte haben viele kleine Reförmchen allen Unmut und Wut aufgespalten, welche die Ausbeutung der Schwächsten unter gutmenschlichen Vorzeichen aufgeweicht haben. Es macht keinen Unterschied ob in einem esoterischen Arbeitsghetto Glöckchen aus Keramik gebrannt werden oder Siemens unterm eigenen Dach eine Außenwerkstatt, also “draußen” und somit “ein Beitrag zur Inklusion”, betreibt, wo die Leute auch nur wieder unter sich arbeiten. Ermutigend dann von kleinen Sabotageaktionen mitzubekommen, wo Leute am Band die Arbeiten der Schwächeren mit übernehmen, damit diese nicht wie nach dem gesetzlich vorgesehenen Leistungskatalog weniger verdienen, sondern mit geteilter Arbeit gleiches Geld für alle rausspringt. Oder Rollifahrer*innen in ihren Gefährten technische Einzelteile rausschmuggeln um sich draußen ihren eigenen Computer zusammen zu schrauben.

Aus kämpferischen Zusammenhängen in den USA entstehen bereits in den 80ern die Disability Studies die zunächst, ähnlich den Genderstudies, alles ins Dekonstruieren bringen, nur um sich später wieder in den Konstruktionen selbstbewusst einzufinden. Blind bleibt blind, Muskeldystrophie ist eben das Schwinden der Muskelkraft und so weiter. Aus diesen akademischen Diskursen kommt Anfang der 2000er in Berlin neuer Wind auf. Die Zeitschrift „Mondkalb“ erscheint, Menschen mit und ohne Behinderung (der sogenannte moB) setzen zum 1. Mai 2007 erneut kraftvollere Akzente: “Barrikaden statt Barrieren”, “Jedem Rolli seinen Molli”. Leider verliert sich alle anfängliche Kampfansage in symbolischen Partyparaden, wo nur noch Stolz -pride- der gemeinsame Nenner ist. Stolz auf was? Dass es innerhalb der Behindertenszene jene Fitten gibt, die sich selbst organisieren können und jene Abgehängten, die nach wie vor zum Monatslohn von etwa 140€ in den Werkstätten ausgebeutet werden? Dass alle, die sich ausdrücken können vielleicht eine Stimme haben, aber meinem Bruder mit Sprachcomputer kaum mit der angemessenen Geduld begegnet wird?

Ich sehe wie die Ärztin mit den Augen rollt, auch versuchte sie mich zu unterbrechen, aber ich lasse sie gar nicht zu Wort kommen. Ohne Luft zu holen, erzähle ich ihr, dass es gerade in den letzten Jahren viele Proteste gegen das Gesundheitssystem gegeben hat, wie bspw. das Besetzen von Rathäusern für eine alle einschließende Krankheitsversorgung. Das machte zwar Laune, aber diese Bewegung der 2000er hat sich ebenso wie die vorangegangenen wieder aufs Bitten und Betteln nach Anerkennung und Teilhabe zurückgezogen. Das neue Stichwort Inklusion ist nur noch eine äußere Demonstration des Staates irgendwelche Menschenrechte einzuhalten. Mehr aber auch nicht. Aufs Wort folgen neue Gesetze und es ist nur die Pseudoabsicherung eines Staates und der Wirtschaft, die bisherige institutionalisierte Normalität aufrecht erhalten zu können und damit Leben und Arbeitskraft unter Kontrolle und Verfügung zu behalten. So ist seit Januar 2020 das Teilhabegesetz in Kraft getreten. Knapp aber deutlich beschrieben bedeutet dies für jede Person mit Diagnosen einen detaillierten Antrag mit sämtlichen Wünschen und Bedürfnissen auszufüllen, damit dann „ganz individuell“ die notwendigen Gelder überwiesen werden können. Da, abgesehen von vielen mühsamen Eigeninitiativen, sonst kaum alternative Wohn- und Begegnungs- und Alltagsräume anvisiert, probiert und aufgebaut werden, läuft das Ganze nur darauf hinaus, dass sich jede Person mit diesem total individuellen Geld ihren eigenen Heimplatz, Sozialarbeiter*innen, Werkstattmitarbeiter*innen etc. bezahlen kann. Das wird dann Selbstbestimmung genannt.

Vielleicht ist Solidarität hier das Stichwort. Im Laufe der Jahre haben wir für uns verstanden, dass eine Gesellschaft, die Hilfsbedürftigkeit anerkennt, die fähig ist zu formulieren und wahrzunehmen was wer für sich an Unterstützung braucht eine Veränderung möglich machen kann. Schonmal die berechtigte Arroganz von Rollifahrer*innen erlebt, denen ungefragt irgendwelche gutmeinende Unterstützung aufgedrängt wurde? Es ist absolut nicht normal mit behinderten Leuten zu leben. In meiner Nachbarschaft leben nur fitte, höchstens alte Menschen. Auch sonst nicht viele Begegnungen mit Krüppeln im Alltag. Bevor mein Bruder in die für ihn gut ausgebaute eigene Wohnung zog, wohnte er in einer sogenannten WG, was nur ein Euphemismus für Heim ist. Mein Bruder nennt auch dies Ghetto. Dort leben dann bspw. 30 Leute mit irgendwelchen Sachen in Vierer -oder Sechser-WG’s zusammen. Im Rahmen der ersten Teilhabeplanversuche wurden die Leute in den WG’s ums Verrecken verarscht. So konnten die sogenannten Klient*innen einer Betreuungsfirma ihre Assistent*innen nur und ausschließlich über einen firmeninternen Pool bestimmen, womit offiziell die Wahlfreiheit eingehalten, aber in dieser Begrenzung komplett untergraben wurde. Auch durften sie ihre Mitbewohner*innen nicht selbst aussuchen. So kam es dann, dass eine nichthörende Frau mit einem blinden Mann zusammen lebte. Na wie die wohl miteinander kommunziert haben? Nur durch unsere vermittelnde Kommunikation zwischen den beiden und heftigen Beschwerden konnten wir diese unsägliche Situation abändern. Was ist mit jenen die niemenschen haben? Ich redete mich in Rage. Die Ärztin hat keine Antwort auf meine Wut. Ich frage sie trotzdem ob sie zu einer Abtreibung bereit ist. Sie schien komplett verwirrt und wusste gar nix mehr zu sagen. Ich habe sie dann einfach stehen gelassen und bin hinaus spaziert.

Tag 47

Die Arzthelferin rief mich heute an, um mir auszurichten, dass sie mich in dieser Praxis nicht mehr weiter behandeln könnten.

Tag 50

Heute zu einem anderen Arzt. Die Zeit wird knapp. Mir bleibt noch ungefähr ein Monat.Dort treffe ich im Wartezimmer eine Freundin. Die hält mir ein schwarz-weiß-Bild unter die Nase. Sie erzählt von den Reaktionen ihrer Familie, ihres Freundes, etc.. Es ist das Bild, das eine größere Wahrheit schafft als jede morgentliche Kotzerei. Ich bin traurig, dass den Kittelträger*innen soviel Macht über unsere Körper zugesprochen wird. Wir überlassen Ärzt*innen die Einschätzung über unsere Körper. Die durch sie bedienten Maschinen sagen uns, was mit uns ist. Ultraschalluntersuchungen, Bluttests, Röntgenbilder, etc.. Insbesondere das Aufkommen genetischer Forschungen will uns eine personalisierte Medizin suggerieren, die aber weitaus unpersönlicher ist als die bisherigen Behandlungen. Es ist Normalisierung, die hier auf Nanometerebene installiert wird. Zum einen dringt die Ausbeutung tiefer in unsere Körper und unsere genetischen Daten sollen in ein großes Netz an wachsenden Datensätzen eingehegt werden. Zum anderen wird es mit den genetischen Untersuchungen kaum zu einer individuell angepassten Behandlung kommen. Vielmehr werden aus den Daten statistische Mittelwerte und darauf basierende Wahrscheinlichkeiten errechnet, Risikobewertungen abgeleitet und Therapien eingeleitet. Auch alle bisher vorliegenden Datensätze von bspw. Leuten aus dem Trisomie 21-Spektrum werden nicht verwendet um das Leben mit Trisomie 21 zu erleichtern, sondern lediglich der Forschung beigegeben, wie diese genetische Besonderheit in Zukunft beseitigt werden kann. Statt Leben zu nehmen wie sie kommen, meint der Mensch sich über Krankheit, Infektionen, Mutationen, Zufälle hinweg setzen zu können. Der Arzt heute scheint mir sympathisch und besonnen. Er meint, dass er mir auch gleich den Beratungsschein ausfüllen kann.

Tag 53

Der Arzt rief mich heute an und in der übernächsten Woche kann ich schon einen Termin haben.

Tag 71

Ich bin erschöpft, aber zufrieden. Das Leben geht weiter. Ohne Kind.