Aufruhr in Belarus

Interview mit Anarchist*innen zu den Revolten in Belarus letztes Jahr

Gab es vorher Anzeichen für die Revolte und haben Kontinuitäten dazu geführt?

Vor 2020 hätte sich niemand vorstellen können, dass so etwas in Belarus möglich ist. Doch schon im Sommer war klar, dass es Vorgänge im Land gibt, die weit über „normale“ Oppositionsaktivitäten hinausgehen. Bei mehreren Gelegenheiten griffen Menschen in verschiedenen Teilen des Landes die Polizei an, um Gefangene zu befreien. Riesige Kundgebungen fanden statt, ohne dass sich „starke“ Anführer*innen auf ihnen zeigten. Das Open-Mic-System, das sich vor allem in den regionalen Städten verbreitete, wurde zu einem der ersten Symbole der Selbstorganisierung.

Im August 2020 gab es eine massive Welle der Organisierung und viele Menschen, die bereit waren, sich dem Staat nicht nur mit symbolischen, sondern auch mit direkten Aktionen zu widersetzen.

Wie sah die Situation der Anarchist*innen in Belarus in den letzten Jahren aus? Was waren die Projekte und Ausdrucksformen?

In den letzten Jahren befand sich die anarchistische Bewegung hauptsächlich im Untergrund. Mehrere öffentliche Projekte existierten weiter (z.B. Food Not Bombs), aber sie wurden nicht als spezifisch anarchistische Projekte betrieben. Das hing damit zusammen, dass die meisten, im Vorfeld angekündigten Aktionen mit eindeutiger politischer Agenda, sofort Repression ausgesetzt waren.

Veranstaltungen, wie Konzerte oder Vorträge berühmter Anarchist*innen, fanden im Untergrund statt. Es gab mehrere Versuche, in den öffentlichen Raum zu gehen, aber alle wurden mit Verhaftungen und Anzeigen wegen Störung der öffentlichen Ordnung unterdrückt.

Abgesehen davon spielten Anarchist*innen eine wichtige Rolle bei den Protesten gegen das „Parasitengesetz“ im Jahr 2017. Wir waren eine der bestorganisierten Gruppen von Demonstrant*innen und das erregte die Aufmerksamkeit von Oppositionspolitiker*innen, die sowohl die anarchistische Agenda im Kampf gegen Lukaschenko, als auch den Staat tolerieren mussten: In ein paar Wochen wurden mehr als 40 Anarchist*innen wegen Störung der öffentlichen Ordnung angeklagt und für 10-15 Tage ins Gefängnis geschickt.

Im Allgemeinen hatte die politische Polizei Mühe, die dezentrale Bewegung zu unterdrücken. Es gab viele Versuche, die „Anführer*innen“ der Anarchist*innen ausfindig zu machen und sie zu zerschlagen, aber dies führte nie zu ernsthaften Beeinträchtigungen der Bewegung selbst. Wegen des Mangels an Zentralisierung waren die Anarchist*innen bisher eine der erfolgreichsten politischen Bewegungen, die mit der Repression im Land zu kämpfen hatten.

Welchen Einfluss hatten anarchistische Interventionen auf den Ausbruch der der aktuellen Revolte?

Am Tag der Wahlen und einige Tage danach gab es in Minsk und vielen anderen Städten Aufstände. Lokale Gruppen von Anarchist*innen und Antifaschist*innen nahmen in den ersten Reihen dieser Proteste teil und kämpften Seite an Seite mit einfachen Menschen, die nicht in irgendwelchen Affinitätsgruppen organisiert waren oder irgendwelche Vorerfahrungen mit der Organisierung auf der Straße hatten. Die Solidarität zwischen Anarchist*innen und vielen Demonstrant*innen schuf eine starke Verbundenheit und stärkte den Ruf der Anarchist*innen unter den entschlossensten Demonstrant*innen.

Das war keine Zustimmung zu unserer politischen Agenda, sondern eher eine Anerkennung unserer Formen der Organisierung und unserer direkten Aktionen. Aufgrund dieser ersten Tage haben wir später bei verschiedenen Altersgruppen und sozialen Gruppen im Land ein großes Interesse an anarchistischer Politik beobachtet. Die Teilnahme der Anarchist*innen gab den Ideen der Dezentralisierung der Macht großen Auftrieb – es gab einen Haufen liberaler Gruppen und auch normale Leute, die bereit waren, den „eidgenössischen“ Regierungsstil aus der Schweiz zu kopieren. Das ist kein anarchistisches Beispiel für Selbstorganisation von Gemeinschaften, aber es war ein großer Schritt für das Land, das die meiste Zeit seiner Geschichte von autoritären Regimen beherrscht wurde.

Sobald aber der friedliche Protest ins Spiel kam, nahm die Rolle der Anarchist*innen auf der Straße ab. Es wurde begonnen, nach „Provokateur*innen“ in der Menge zu suchen und einige Genoss*innen hatten Bedenken an größeren Demonstrationen teilzunehmen, da die Gefahr bestand, von der Menge verhaftet und der Polizei übergeben zu werden. Dies war bald vorbei und kleinere Blöcke von 30-40 Anarchist*innen tauchten auf den Demonstrationen auf und brachten die anarchistische Agenda wieder ins politische Blickfeld. Auch wenn die liberalen Gruppen versuchten, uns zu ignorieren, galt das nicht für die einfachen Leute, die mit den Anarchist*innen wirklich zufrieden waren – sogar beim „friedlichen“ Protest.

Irgendwann im Oktober gab es eine lustige Geschichte: Eine Gruppe von 20 Genoss*innen schloss sich einer der Sonntagsdemonstrationen mit Fahnen und Transparenten an. Irgendwann tauchte eine Person auf und rief, dass die Anarchist*innen da seien, um die Polizeigewalt zu provozieren und dass sie aus der Demonstration geworfen werden sollten. Als wahre Populisten fragten unsere Genoss*innen die Menge, ob sie gehen sollten, und die Menge rief laut „NEIN“ (es war kein einziges „Ja“ zu hören, nicht einmal von dem Typen, der die Idee, die Anarchist*innen rauszuschmeißen, zuerst vorgebracht hatte).

Gab es Entscheidungen für bestimmte Methoden, im Kampf und in der Organisierung?

Es war klar, dass wir als Anarchisten nur eine kleine Gruppe innerhalb der Proteste sind. Außerdem geht es bei diesem Protest nicht um eine anarchistische Revolution, sondern um den Sturz des Regimes. In der Situation war für uns klar, dass wir uns an den Protesten beteiligen und den Leuten helfen sollten, sich gegen die Polizeigewalt zu wehren und zu zeigen, wie der Widerstand auf der Straße organisiert werden kann. Das wurde bereits vor dem Wahltag besprochen und durchdacht.

Später führte die Teilnahme an der größeren Demonstration auch zu einer langen Diskussion darüber, ob wir dort als organisierter anarchistischer Block oder einfach als kleinere, konfrontationsbereite Affinitätsgruppen auftreten sollten. Es wurde entschieden, größere Gruppen zu bilden und zu versuchen, die Leute unter unseren Fahnen zu vereinen – damit die am meisten handlungsbereiten Menschen wissen, dass sie unter schwarzen Fahnen keine Demoteilnehmer*innen finden werden, die bei bestimmten Konflikten mit dem Staatsapparat gleich „Provokateure“ schreien.

Wie wurde kommuniziert und wie und wo wurden Entscheidungen getroffen? Welche Rolle spielten feministische Positionen bei der Revolte?

Was die Entscheidungsfindung innerhalb der Bewegung betrifft – sie werden alle im Konsens auf den Vollversammlungen getroffen, die meist im Untergrund stattfanden, wodurch wahrscheinlich Teile der am Anarchismus interessierten Menschen ausgeschlossen wurden. Bestimmte Entscheidungen für Aktionen wurden den Affinitätsgruppen überlassen (ob sie an einigen Aktionen teilnehmen oder nicht).

Im Großen und Ganzen gab es keine Transparenz. Die meisten Entscheidungen über das Format der Proteste wurden von den großen Telegrambloggern und der Nachrichtenplattform getroffen, die keine vorherige Protestorganisation hatten. Versuche, verschiedene Protestgruppen in die Planung einzubeziehen, wurden zu spät unternommen – zu dem Zeitpunkt, als die ganze Revolte bereits im Sterben lag.

Gab es Linke, Reformistische oder andere, z.B. Rechte die versucht haben die Kämpfe zu vereinnahmen oder zu befrieden? Wie wurde damit umgegangen?

Die autoritäre Linke in- und außerhalb von Belarus liebt Lukaschenko immer noch. Schließlich vertritt er diesen Mythos vom Erfolg des Sozialstaats in Osteuropa. Diese Position hat die linke Bewegung in Belarus zerstört. Das ist auch einer der Hauptgründe, warum viele Anarchist*innen sich nicht mit linken Ideen verbinden (obwohl die populärste anarchistische Ideologie in der Region der Anarcho-Kommunismus ist, gefolgt vom Individual-Anarchismus).

Auch die extreme Rechte ist meist mit der Herrschaft Lukaschenkos zufrieden. Er ist ein konservativer Führer, der all diese liberalen europäischen Werte aus unserem Land fernhält. Die Faschisten und Nazis, die versuchten, sich gegen das Regime zu organisieren, versammelten sich meist in der Fußballszene und wurden 2015 zerschlagen, nachdem Maidan zeigte, welches Potenzial in den Protesten der Fußball-Hooligans steckt. Das selbe ist übrigens auch mit den Antifa-Fußballfans passiert.

Es gab auch gewisse liberale Gruppen, die versuchten, die Protestwelle zu reiten, aber sie wurden ziemlich schnell unterdrückt und ohne Anführer*innen haben sich ihre Bewegungen aufgelöst. Von Zeit zu Zeit sehen wir Versuche, neue Anführer*innen der Opposition zu werden, aber das sind meist interne Kämpfe innerhalb der politischen Opposition und der Großteil der Menschen ist dessen bereits überdrüssig.

Die Befriedung der Kämpfe ist ein weiteres großes Thema. Sie wurde, nach ein paar Tagen der Kämpfe und Barrikaden, im ganzen Land vorangetrieben. Das liberale Dogma vom gewaltfreien Protest wurde auf Belarus übertragen. Die Bemühungen, den Protest gewaltfrei zu machen, kamen aus allen Richtungen – es gibt Liberale im Land und im Westen, die versuchen „die Gewalt zu stoppen“. Es gibt die Operationen der Polizei in den sozialen Netzwerken, die versuchen die protestierenden Menschen zu beruhigen und die Kontrolle über die Straßen zurückzugewinnen. Es gibt Troll-Fabriken, die auch Anarchist*innen und andere Provokateur*innen angreifen, um den Konflikt innerhalb der Proteste zu verstärken. Tatsächlich blieb bei all dieser Propaganda wenig Raum für Diskussionen über die Rolle der Gewalt bei den Protesten.

Diese ganze Gewaltfreiheit-Debatte wurde im November aufgegeben, als klar war, dass die Polizei die Situation immer weiter eskalieren wird. Aber das war auch zu spät, denn viele Leute, die im August auf der Straße kämpften, waren bereits im Gefängnis oder mussten das Land auf der Suche nach politischem Asyl nach Polen/Ukraine/Litauen verlassen.

Haben die Aufstände an anderen Orten, die gleichzeitig stattfanden oder finden, die Situation oder das Bewusstsein der Aufständischen in Belarus beeinflusst?

Vor 2020 haben die Menschen in Belarus die Weltpolitik nicht wirklich verfolgt. Sicherlich wussten einige kleine Gruppen über den Aufstand in Hongkong oder anderen Ländern Bescheid. Gleichzeitig wussten alle was in der Ukraine geschah und zumindest einige Leute hatten Angst, dass Putin und Lukaschenko einen weiteren Krieg in der Region beginnen würden, um den Einfluss Moskaus zu erhalten.

Aber allgemein würde ich nicht sagen, dass die Menschen durch die Proteste anderswo auf der Welt ermutigt wurden. Und selbst als in Kasachstan ein paar Tage lang erfolgreiche Straßenkämpfe stattfanden, sprachen die meisten Protestmedien in Weißrussland über unsere eigene spezielle friedliche Art die Veränderungen in das Land zu bringen.

Gab es Momente, die dich/euch speziell geprägt haben? Was war die Qualität dieser Momente?

Ich denke, jeder Mensch hatte eigene besondere Momente bei diesen Protesten. Angefangen von den ersten Demonstrant*innen, die ermordet wurden, diese Mischung aus Wut und Verzweiflung in den Herzen von Vielen und schließlich die kleinen Siege auf den Straßen, die wir uns nie im Leben hätten vorstellen können. Wir alle wurden Teil des Aufstandes gegen die Diktatur und waren so verdammt nah dran, tatsächlich zu gewinnen. Es war ein Gefühl des Ozeans irgendwo hinter dem letzten Hügel, den wir nicht überquert haben.

Die Solidarität der einfachen Leute hat die ganze Welt auf den Kopf gestellt. Jeden Tag versuchen autoritäre Regime dir zu vermitteln, dass du allein auf dich gestellt bist. Es gibt niemanden, der dir hilft, es gibt niemanden, auf den du zählen kannst. Und wenn du dann Hilfe von Fremden bekommst, die dich mit dem Auto abholen, um dich aus der Gefahrenzone zu bringen oder Menschen, die Demonstrant*innen in ihre Wohnungen lassen, damit sie der Polizei entkommen können – all das zeigt, dass wir als Menschen noch eine Zukunft haben.

Was bleibt, was ist aus den Kämpfen erwachsen, was habt ihr gelernt? Wie weiter?

Auch wenn die Repression im Land immer noch zunimmt und immer mehr Menschen gerazzt, angeklagt, strafrechtlich verfolgt und zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt werden, sehen wir, dass die Massen die Bedeutung der kollektiven Macht gelernt haben. Gemeinsam sind wir stark und wir können das Regime dazu bringen, vor uns zu fliehen. Und ich glaube, dass die Energie dieser kollektiven Macht über Jahre hinweg nicht verpuffen wird. Sie wird vielleicht keine neuen Proteste auslösen, aber die Solidarität wird noch sehr lange in der Gesellschaft bestehen bleiben. Lukaschenko wird es schwer haben mit einer rebellischen Bevölkerung fertig zu werden.

Es ist unmöglich, die Zukunft vorherzusagen, aber sicher ist, dass irgendwo am Horizont eine Wirtschaftskrise aufzieht. Das Regime hat viel Geld in die Polizei gepumpt und Teile des Privatsektors mussten in andere Länder abwandern. Wenn dies bald geschieht und die ganze Wirtschaft explodiert, ist nur schwer vorstellbar, was Lukaschenko und sein Regime noch retten kann. Seine Polizeikräfte und seine Armee stehen nicht aus ideologischen Gründen hinter ihm – sie schützen ihn nur wegen des Geldes und der Privilegien, die sie im Land bekommen. Sobald diese weg sind, werden sie zu den ersten gehören, die den Diktator loswerden wollen.

Allerdings bereiten sie sich auch auf dieses Szenario vor. Wenn wir im Jahr 2020 einen Repressionsapparat hatten, der seit den 90er Jahren nicht mehr mit ernsthaften Protesten zu tun hatte, haben sie jetzt sehr gut ausgebildete Polizeikräfte für reale Szenarien. Und das ändert die Dynamik ziemlich schnell. Je mehr Zeit sie also haben, sich auf die nächste Protestexplosion vorzubereiten, desto mehr Möglichkeiten haben sie, diese erfolgreich zu zerschlagen.

Was die anarchische Bewegung betrifft – es lässt sich schwer sagen, ob wir überleben werden. Viele Menschen wurden aufgrund von Strafverfolgung gezwungen, das Land zu verlassen. Einige Aktivist*innen haben Anklagen, die bis zu lebenslanger Haft führen können. Einige sind immer noch auf freiem Fuß, wahrscheinlich nur, weil die Schweine mit anderen Aktivist*innen beschäftigt sind und es nur eine Frage der Zeit ist, bis noch mehr unserer Genoss*innen im Knast landen.

Aber um nicht ganz so düster zu enden. Es gibt immer noch eine Menge Hoffnung in der Gesellschaft. Die Leute glauben immer noch, dass wir in der Lage sind, die Diktatur zu stürzen, und wenn vor ein paar Monaten noch viele auf einige abstrakte starke Persönlichkeiten zählten, die sie anführen sollten, sehen wir heute, dass die Leute erkennen, dass die Befreiung allein in ihren eigenen Händen liegt.