Jetzt oder Nie!

Die Laborratte wurde im Labor geboren. Sie hat ihr gesamtes Leben dort verbracht. Sie kennt nichts außer dem Labor, den Laborfraß, das Laufrad, die Trinkflasche, die Sägespäne, den Geruch von Desinfektionsmittel, fensterlose Räume, künstliches Licht, große plastiküberzogene Hände, große Augen, die sie, aus maskierten Gesichtern und über Klemmbretter hinweg, mustern. Und sie kennt die Sehnsucht, die Sehnsucht nach Nähe zu ihren Brüdern und Schwestern in den anderen Käfigen, die Sehnsucht nach einem anderen Leben.

Diese Ratte ahnt nichts von der Welt jenseits der Mauern, die sie umgeben. Sie ahnt nichts von der feuchten, weichen Erde und dem duftenden Gras. Nichts von den Bäumen, den Flüssen, der Sonne und dem Sternenhimmel. Sie ahnt noch nicht einmal etwas von der Existenz des französischen Käses im Kühlschrank im Zimmer nebenan.

Das Wichtigste ist zu überleben. Die Laborratte hofft, dass dieses Überleben möglichst komfortabel, ohne große Schmerzen, mit Nähe zu anderen, einschließlich der Zeugung von Nachkommen, ist. Aber all das hängt von den Menschen im Labor ab. Die Menschen entscheiden über den Lebensraum und die Versorgung aller Tiere im Labor. Sie verteilen das Futter, behandeln Krankheiten und bestimmen darüber wer sich fortpflanzen darf. Menschen herrschen über Leben und Tod.

Das Futter ist eintönig, stillt aber den Hunger. In jedem Käfig gibt es mindestens eine Trinkflasche mit Wasser. Aus manchen Trinkflaschen kommt Wasser, das anders schmeckt und eine gewisse Gleichgültigkeit mit sich bringt, die sich über die Isolation und das Elend des Laborlebens legt. Das Getränk sickert durch den Körper und umschlingt ihn gleichzeitig in fester Umarmung, die sich schützend vor den Schmerz und die Ausweglosigkeit schiebt. Das Verteilen des Futters und der Trinkflaschen geht auch mit dem Verteilen von Arbeit in den Experimenten einher, die sowohl zu Vorteilen, als auch zu großem Leid führen kann. Meistens ist es eine Kombination aus beiden.

Viele haben vor dem öden Leben in ihren Käfigen resigniert. Sie liegen in den Sägespänen und starren auf das sich drehende Laufrad oder die Lämpchen der diversen Geräte, die sie umgeben. Manche können durch die Plexiglasscheiben hinweg die wenigen Ratten beobachten, die zur Fortpflanzung ausgewählt wurden, wie sie in etwas größeren Käfigen, zusammen mit ihren Familien, für den Moment, glücklich scheinen. Aber eigentlich wissen alle, dass das Leben hier scheiße ist.

Natürlich gibt es Gerüchte über anderes Futter und sogar über eine ganz andere Welt außerhalb der weißen Wände und Leuchtstoffröhren, außerhalb von Edelstahl, Sägespäne und Plastik. Aber daran glauben nur Fanatiker*innen und Extremist*innen.

Selbst wenn es eine Welt außerhalb gäbe, wie sollte die aussehen? Schließlich sind sie auf die Menschen und das geordnete Leben im Labor angewiesen, alles andere wäre doch Chaos, die reinste Anarchie! Ohne das Labor würden barbarische Zustände herrschen. Wenn die Menschen nicht kontrollierend eingreifen, um die Tiere zu isolieren, gegen die neusten Viren zu impfen, gegen die vielen Laborkrankheiten zu beschützen und im Zweifel eben auch mal einige zu entsorgen, bricht das ganze System zusammen. Das ist ja nur zum Besten aller und sichert das Fortbestehen der Population. Außerdem würde ohne das Laborsystem und die dort herrschenden Menschen das Futter zur Neige gehen, sie würden von ihren Artgenossen aufgefressen, oder von anderen, bisher ungekannten Feinden getötet werden. Alle würden sehr bald ein elendes Ende finden, das ist sicher. Denn alle wissen doch, dass das Leben im Labor die natürliche und fortschrittliche Lebensweise ist. Laborratten sind die Speerspitze der Zivilisation und Evolution. Und es gibt schließlich keine Beweise dafür, dass es jemals ein anderes Leben geben hätte oder möglich wäre.

Die meisten haben sich ihrem Schicksal ergeben. So ist die Welt eben. Was sollte es bringen, sich dagegen zu wehren? Das ist unrealistisch. Es ist nicht genug für alle da. Das liegt in der Natur der Sache und wer sich nicht durchsetzt hat eben verloren.

Für die meisten gibt es keinen Grund diese Einstellung zu hinterfragen. Es gibt wenig Gründe etwas verändern zu wollen, etwas anderes zu wollen, als sich selbst einen Vorteil zu verschaffen. Schließlich sieht es in anderen Abteilungen viel schlimmer aus. In dieser machen sie immerhin nur „soziale Experimente“. Es geht ihnen viel besser als den Ratten in den Abteilungen für Genforschung oder Kosmetiktests. Im Labor herrscht Ordnung und Sicherheit. Für alles benötigte ist gesorgt. Wer sich nicht anpasst wird entsorgt oder landet in der „Skinner Box“, kleine Einzelzellen, in der man sich kaum bewegen kann. Aber wer dort landet hat es schon irgendwie verdient.

So lange und so bequem wie möglich am Leben zu bleiben ist das Ziel. Dafür sind viele bereit alles zu tun und alles zu ertragen. Erfolgreich ist, wer das betäubende Trinkwasser erhält und dafür kaum etwas tun muss, wer einen großen hellen Käfig, eine Familie und ein Laufrad hat. Laufräder sind die eine tolle Erfindung. Denn auch auf kleinstem Raum kann sich Ratte fit halten. Viel besser als im Kreis zu laufen. Denn nur fitte Tiere werden für Experimente ausgewählt. Wenn sie allerdings zu viel im Laufrad läuft, bekommt sie davon Rückenschmerzen und wird entsorgt.

Wenn abends die grellen Deckenlichter ausgehen, der Raum mit den aufgestapelten Käfigtürmen in das sanfte Grün der Notausgangleuchten getaucht ist und die meisten Menschen abwesend sind, unterhalten sich die, die den Austausch suchen und nicht zu dicht oder erschöpft sind, über die Käfigwände hinweg. Sie unterhalten sich über das Tagesgeschehen oder darüber, nach welchen Regeln das System der Futter- und Arbeitsvergabe funktioniert. Sie wollen das Leben aller Tiere im Labor verbessern. Sie entwickeln Pläne, wie das konkret aussehen kann. Wie können auch die betäubten und uninteressierten Tiere zum Protest bewegt werden? In langen Diskussionen und Plena haben sie eine Vorstellung davon entwickelt, wie ein besseres Leben für alle aussehen könnte. Statt der vielen kleinen Käfige und Zellen wollen sie einen Riesenkäfig, den sie nicht mehr „Käfig“ sondern „Park“ nennen, den „Rat Park“. Dieser ist mit den hochwertigeren duftenden Buchenspähnen ausgelegt (die Laborratten haben zwar keinen Plan was eine Buche ist, aber die Späne duften herrlich). Es gibt viel Platz und schöne Brutstätten. Bis zu 20 Tiere können gemeinsam dort leben und sich frei bewegen. Es gibt Laufräder und abwechslungsreiche „Landschaft“, kleine Hügel und Spielzeug. Das ist das Paradies und eine Utopie, die das Laborleben für alle ein bisschen aushaltbarer machen soll. Natürlich gäbe es auch weiterhin Experimente. Die Ratten müssten also auch weiterhin arbeiten. Ohne Arbeit geht es eben nicht. Zumindest würde es ihnen in der Zeit zwischen den Experimenten besser gehen. Und hinter dieser Idee wollen die Aktivist*innen den Großteil der Ratten vereinen, um mit den Menschen in Verhandlung treten zu können. Schon lange drehen sie sich mit diesem Plan im Kreis. Aber sie glauben trotzdem fest daran. Denn ohne diese Hoffnung hätten sie gar nichts mehr.

An einem Abend, wie immer um die selbe Zeit, kommt der schwarz gekleidete Mensch zur letzten Kontrollrunde in die Käfigstadt. Er geht, ganz nach hinten durch in die Abstellkammer, wo sich die ausgemusterten und vergessenen Tiere, zwischen Sägemehlsäcken und Desinfektionsflaschen, in der Dunkelheit in ihren Käfigen bewegen. Dort setzt er sich an einen kleinen Tisch unter dem Abzugsventilator und zündet sich eine Zigarette an. Dabei mustert er die Tiere in den Käfigen vor sich. Vor ihm sitzt eine Ratte, der ein menschliches Ohr auf dem Rücken gewachsen ist. Er legt seine Zigarette im Aschenbecher ab und steht auf um näher an den Käfig heran zu gehen und sie mit einer Mischung aus Faszination und Ekel zu mustern. Dann schlägt das Funkgerät an seinem Gürtel Alarm. Kurz hört er aufmerksam zu, dann rennt er los, an den Käfigen des vorderen Teils vorbei, stößt die Tür unter der grünen Lichtquelle auf und rennt hinaus. Die Tür bleibt offen stehen. Ein kräftiger Windstoß fegt über die Käfige hinweg. Alle sind wach und in Alarmbereitschaft. Die offene Tür gibt den Blick frei auf den unendlichen Nachthimmel und das Gras, das im Mondschein schimmert. Viele Ratten kleben mit den Nasen an den Plexiglaswänden und schnuppern Richtung Freiheit. Der kurze Schock wird durch aufgeregte Kommunikation abgelöst. Im hinteren Teil des Raums brennt noch die Zigarette im Aschenbecher. Von dort, ruft die Schwester mit dem Ohr, sie habe eine Möglichkeit sich und andere zu befreien aber sie müsste sofort handeln. Von den anderen Ratten kommen Einwände. Sie haben Angst, dass die Menschen alle Einknasten oder Töten, wenn der Versuch scheitert. Viele der organisierten Ratten würden lieber kein Risiko eingehen und sich an den langfristigen Plan für die Forderungen halten. Irgendwie haben sie es ja auch ganz gut, immerhin sind sie am Leben und haben ein paar Privilegien. Nur die wenigsten und vor allem die, die nichts mehr zu verlieren haben wissen, dass sie nur eine Chance auf Freiheit haben und die ist jetzt oder nie!

Im Schein der brennenden Zigarette, die im Aschenbecher auf einem Tisch vor ihrem Käfig steht, schrauben die kleinen, flinken Rattenpfoten an der Vorrichtung der an der Käfigwand befestigten, gefüllten Trinkflasche. Kurz darauf kracht die Flasche auf den Tisch und katapultiert die Zigarette aus dem Aschenbecher. Der Glimmsteingel rollt über die Tischkante und fällt auf die mit Sägemehl gefüllten Säcke. Bald fangen sie an zu brennen.

Am nächsten Morgen sind die rauchenden Überreste der Laborwelt in der Ferne noch erkennbar. Unweit, am Fuße eines alten Baums im Gras, sitzt eine Gruppe von Ratten, die sich gegenseitig die Brandwunden lecken und immer wieder staunend in die Gegend schnuppern.