Die Pandemie der Angst

Ein Gespenst geht um in der Welt. Wir können es über unsere Bildschirme live mitverfolgen. Eine Nachricht jagt die andere. Anweisung hier, Verbot da, Empfehlung dort. Gesundheitsnotstand, Katastrophenfall, Ausnahmezustand. Bunte Grafiken veranschaulichen die Ausbreitung und zählen die Infizierten und Toten. Bilder von leer gefegten Straßen, von Peking bis Mailand, flimmern in unsere Wohnzimmer und leer gefegte Regale in den Supermärkten lassen erahnen, dass auch hier etwas Ungewöhnliches im Gange ist. Es zeichnet sich ein Bild, dass wir bisher nur aus apokalyptischen Hollywood-Streifen kennen. Virolog*innen füllen die Sondersendungen in Funk und Fernsehen und manchmal kommen auch Menschen zu Wort, die behaupten, das Virolog*innen gar keine Ahnung von Medizin hätten. Die Politik hat es auch nicht. Deswegen ist das Gesundheitssystem auch gewinnbringend zusammengespart und in großen Teilen privatisiert worden. Da hilft auch kein Klatschen von den Balkonen. Noch Ende Februar hat der Gesundheitsminister Krankenhausschließungen gefordert. Denn nur Profit zählt und dieser lässt sich bekanntlich nicht durch Fürsorge erreichen.

Aber jetzt, ganz plötzlich, scheint sich der Staat für das Wohlergehen seiner Bürger*innen zu interessieren. Er inszeniert sich als großer Beschützer vor dem Unbekannten. Wir können es nicht sehen, aber es ist unter uns. Überall lauert Gefahr und es kann uns alle treffen, ganz unterschiedslos. Alle sind Gefährder*in und Gefährdete*r gleichermaßen. Jetzt heißt es zusammenstehen und Verantwortung übernehmen. Endlich, das oft ersehnte WIR. WIR alle zusammen gegen das Virus, im Namen unserer Schwächsten. Im Namen derjenigen, die sonst ganz selbstverständlich an die Ränder der Gesellschaft abgeschoben werden. Denen, den seit Jahren das Pflegepersonal gekürzt wird und jenen, die früh morgens durch die Stadt streifen, um ihre mickrige Rente mit Pfandflaschen aufzubessern. Diejenigen, die an den Tafeln um Essen betteln müssen, weil die Kohle nicht reicht um satt zu werden. Die Tafeln, die nun zum Schutze der Hungrigen geschlossen wurden. Genau diejenigen sollen jetzt herhalten als Argument für den Ausnahmezustand. Es wirkt verlogen. Der autoritäre Staat bringt sich in Stellung und sieht sogar gut aus dabei. Beziehungen werden ohne Widerwillen gegen den Bildschirm eingetauscht und die soziale Isolation aus Vernunft vorgezogen. Nur Arbeiten, das geht noch. Es sind ja ohnehin nur ein paar Scheissjobs, wozu man sich unter Leute begeben muss. Alle anderen machen Homeoffice. Folgt man den Medien, scheint das sowieso der Großteil der Bevölkerung zu sein. Homeoffice, ganz selbstverständlich, als gäbe es gar keine anderen Jobs mehr. Schon kurz nach Ausbruch sprach der französische Präsident: Es sei Krieg. Und verhängte die Ausgangssperre. 100.000 Sicherheitskräfte sollen sie durchsetzen. Kriegszeiten erfordern eben besondere Maßnahmen, aber sie fördern auch die nationale Einheit. Seit langem hatte der Präsident nicht mehr so viel Zuspruch wie an diesem Tag. Die Meisten bleiben zu Hause, nicht nur in Frankreich. Hier heisst es dann eben Kontaktverbot. Warum in der Sonne ein Buch lesen dann mal untersagt wird, bleibt das Geheimnis derer, die auf den Gesundheitsnotstand mit sicherheitspolitischen Maßnahmen antworten und jenen, die diesen unhinterfragt Folge leisten. Ein WIR, getrieben von der kollektiven Angst, das paralysiert seinem Untergang beiwohnt.

Ich bin weder Virologe noch Mediziner. Ich kann nicht darüber urteilen, was der richtige Umgang mit dem Coronavirus ist und welche Vorsichtsmaßnahmen angemessen wären. Wie auch, wenn sich nicht mal die Spezialist*innen einig sind. Ohne Zweifel ist es zu jeder Zeit angebracht, auf die Alten und Gefährdeten Rücksicht zu nehmen und solidarisch zu sein. Aber es ist auch eine politische Frage. Wer aufmerksam ist, kann unschwer erkennen, dass hier etwas ins Rollen gekommen ist, das möglicherweise weit schwerwiegendere Folgen auf unser Leben haben wird als dieser Virus. Man muss kein*e Anhänger*in von Verschwörungstheorien sein, um zur Annahme zu kommen, dass die Herrschaft diese Pandemie für ihre Zwecke nutzt, um weitreichende Überwachungsmöglichkeiten zu implementieren. China hat es bereits vorgemacht und wird vom Westen für das konsequentes Vorgehen gelobt. Manch Eine*r schielt gar eifersüchtig auf den asiatischen Riesen, wenn es um Fragen der sozialen Kontrolle durch neue Technologien geht. Die dort ohnehin schon weit fortgeschrittenen Kontrollmechanismen durch Social-scoring-Programme oder automatische Gesichtserkennung hat sich das Regime im Kampf gegen Covid-19 mit Erfolg zu Nutzen gemacht. Und auch hier werden solche Maßnahmen konkreter. Die Telekom hat bereits Daten freigegeben, um Funkzellen sämtlicher Mobiltelefone auszuwerten. In verschiedenen Bundesländern haben die Gesundheitsämter sensible Daten an die Polizei weitergereicht und die Bundesregierung wirbt für eine Tracking-App, die sich Freiwillige auf das Smartphone laden sollen, um detaillierte Kontakt- und Bewegungsprofile bei einer Infizierung automatisch an die Behörden zu senden. Es ist durchaus denkbar, dass dies bei einer weiteren Zuspitzung schon bald Standard sein wird. Was ist dann mit den Erkrankten, die kein Smartphone besitzen oder sich nicht überwachen lassen wollen, werden sie womöglich schon bald in Internierungslager gesteckt und zwangsüberwacht? Angst ist eben seit jeher der verlässlichste Partner für die Bio-Macht zur Konditionierung der Bevölkerung. Und was gäbe es da besseres als einen Virus, den wir nicht mal sehen können. Wo uns nur die Möglichkeiten bleiben, total entmündigt den Behörden Glauben zu schenken oder diese zu ignorieren auf die Gefahr hin, von den Mitmenschen als rücksichtslose*r Egoist*in denunziert zu werden. Niemand hätte sich vor ein paar Wochen vorstellen können, dass ganze Landstriche und Staaten so widerspruchsfrei abzuriegeln sind. Beim nächsten Mal wird die politische Hürde dafür sicherlich etwas geringer sein. Und wer weiß, was in Zukunft dafür herhalten muss, um solche Maßnahmen zu legitimieren. Die Gefahr liegt darin, dass der Staat nun ein weiteres drastisches Werkzeug besitzt, um Krisen zu bewältigen. Möglicherweise bald auch politische Krisen. Denn eines ist sicher: die Herrschenden wissen sehr genau, dass ihre Welt brüchig ist und sie werden nicht zögern, alles Erdenkliche zu tun, um sich an ihre Macht zu klammern. Dieser Virus kommt da sehr gelegen.

Zum weiterlesen:

ausnahmezustand2020.noblogs.org
solidarischgegencorona.wordpress.com