Muss die Krise zur Katastrophe werden?


Krise, was ist das eigentlich? Sie ist Höhepunkt und manchmal auch Wendepunkt einer kritischen Situation, Krankheit oder eines Konflikts. Sie erhöht den Zeitdruck und die Unsicherheit. Sie bringt ein Gefühl der Bedrohung mit sich. Die Krise ist bereits da. Sie besteht in der Tatsache, dass das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann. In der Krise haben wir die Möglichkeit Konflikte zu lösen oder auch zu verschärfen. Die Krise bleibt bestehen, so lange an der alten Ordnung festgehalten wird, so lange der Mut fehlt, sich auf etwas Neues einzulassen. Wenn kein neuer Weg gefunden wird, wird die Krise zur Katastrophe.

Über die „katastrophalen Zustände“ wird seit jeher viel gesprochen. Das Wissen darüber hat nicht dazu geführt, dass Auswege aus diesen Zuständen gefunden werden. Die Angst vor der Krise ist ein politisches Mittel, das die Grundlagen der Katastrophe immer weiter verfestigt. Wer glaubt, dass alles schon irgendwie gut gehen wird, weil Politik und Technologie die Entwicklungen, die mit der Zerstörung des Planeten und der Ausbeutung und Zurichtung der Lebewesen (einschließlich Menschen), Krieg, Covid-19, Klimawandel etc. aufhalten werden, wird die Katastrophe sicher erleben. Für die Anderen gibt es zwar keine Hoffnung, aber doch Perspektiven.

Viele von uns kennen sie gut, die Krise. Die, die von Wut und Verzweiflung erfüllt, schon mal an den Abgrund der eigenen Unmöglichkeit gelangt sind, wissen, dass es notwendig ist, sich den Denkweisen zu stellen, die in das Schlamassel geführt haben, um sich aus ihnen zu befreien. An dieser Stelle lauert aber auch eine Falle, nämlich dass diese Befreiung von den alten Denkweisen einzig durch die Aneignung von mehr Wissen ermöglicht wird. Wir sind umgeben, ja umzingelt von Wissen. Wir haben zu jeder Zeit Zugang zu einer fast unendlichen Fülle an Informationen zu den einzelnen Krisen. Wissen ist Macht, heißt es. Mehr Wissen bringt aber offensichtlich Ohnmacht. Das fällt besonders auf, wenn scheinbar nichts anderes mehr getan wird als auf Bildschirme zu schauen, um zu recherchieren, das „richtige“ Wissen zu verbreiten oder um zu entspannen. In der Coronazeit verbreitete sich mit dem Medienkonsum vor allem Angst und Misstrauen, was kaum ein besseres Verständnis über die Qualität des Virus brachte, sondern vor allem eine ungeahnte Bereitschaft zur Zurichtung von sich selbst und anderen. Die ganzen Informationen zum Klimawandel, zur Zerstörung unserer Lebensgrundlagen auf diesem Planeten, münden in allen möglichen individualisierten Scheinlösungen oder, schlimmer noch, darin, an die Politik zu appellieren, aber irgendwie nicht in einer klaren Analyse der Systeme der Ausbeutung und Zerstörung und wie diese beendet werden. Mal über den Tellerrand dieser süchtig-machenden Technologien hinausgeschaut, ergibt sich aus der Interaktion mit den kommerziellen Medien („sozial“ oder nicht) eher weniger Handlungsfähigkeit in Bezug auf Krisenzustände und eher mehr Möglichkeiten, sich in die eigene Unterwerfung einzupassen.

Am Abgrund dieser katastrophalen Gesellschaft stehend, frage ich mich, was die Denkweisen sind, die uns in ihr gefangen halten. Eine hat ihre Wurzel in den großen Erzählungen und denen, die sie verteidigen, weil sie meinen, dass sie notwendig sind (und oder weil sie davon profitieren). Das Problem sind eigentlich nicht die Erzählungen an sich, sondern, das sie überall so präsent sind, dass sie alternativlos scheinen. Die großen Märchen über die Errungenschaften der Zivilisation und des technologischen Fortschritts verschleiern, dass ihre Fortführung ohne die neokoloniale Ausbeutung von Ressourcen, d. h. Zerstörung der Grundlagen allen Lebens, auch nicht im Rahmen erneuerbarer/grüner Technologien möglich ist. Das Bild der schönen neuen Solar- und Windenergiewelt, wo alle noch weiter Netflix glotzen, ist genauso Teil dieses Märchens, wie dass E-Autos (Fahrräder und Roller eingeschlossen) weniger ausbeuterisch oder umweltzerstörerisch wären.

Manchmal wird über „Wahrheiten“ gestritten, bei denen es ziemlich egal ist, für welche ich mich entscheide, weil diese Entscheidung nicht an den Denkweisen rüttelt. Ein Beispiel dafür ist die Frage ob Covid in einem Labor entstand oder zuerst von einer Fledermaus auf den Menschen übertragen wurde. Die Antwort darauf ist: das ist ziemlich egal, wenn ich mir anschaue, dass sich sogenannte Zoonosen, wie Ebola, Sars, HIV, Covid-19 etc. seit den 60er Jahren immer stärker ausbreiten und dies in direktem Zusammenhang mit der Erschließung und Vernichtung von Wäldern für den Abbau von Ressourcen, der damit einhergehenden Verringerung der Artenvielfalt etc. steht. Bei dem ganzen „Wissen“, das zu Covid-19 verbreitet wurde, ist untergegangen, dass diese Art von Pandemie auf jeden Fall menschengemacht ist. Ihre Ursachen sind untrennbar in der Logik verankert, auf der die Gesellschaft basiert: Eigentum und Profit. So lange wir in dieser Logik gefangen bleiben, ist es sehr wahrscheinlich, dass wir weitere Krisen dieser Art erleben. Die Katastrophe an Corona ist, neben Tod, Leid und Einsamkeit, dass versäumt wurde, neue Wege zu finden miteinander zu leben, Risiken abzuwägen und Bedürfnisse mit den Menschen um uns herum zu verhandeln ohne sich von Angst und Panik leiten zu lassen. Die Chance wurde verpasst, Vertrauen zueinander zu stärken und widerstandsfähige solidarische Gemeinschaften aufzubauen anstatt ängstlich und isoliert im Treibsand der autoritären Denkweisen verloren zu gehen, die eine Katastrophe sind.

Teil dieser Mechanismen ist der Glaube an Autorität. Das Märchen, dass Andere besser für mich entscheiden können, dass es „gewaltfrei“ wäre, wenn Andere in meinem Namen Gewalt ausüben, dass Expert*innen über mein Leben entscheiden sollen. Die Krise ist auch eine Krise des Selbstbewusstseins. So groß ist die Zurichtung der Menschen in dieser Gesellschaft, dass sie sich meist nicht imstande sehen, zu handeln ohne jemand Anderen um Erlaubnis zu fragen. Ist das erlaubt? Ist das legal? Ist das zu egoistisch? Anstatt wirklich Verantwortung dafür zu übernehmen was passiert, werden die Handlungsvorschläge der Krisengesellschaft ausgeführt; wenn ich was verändern will, kann ich Müll trennen, auf Twitter teilen und mich mit anderen „connecten“, zu Hause bleiben, weniger duschen, eine Petition unterzeichnen oder E-Bike fahren? In jedem Fall werden die Regeln des Krisensystems eingehalten, auch wenn das alles gut gemeint ist, die Krisenmärchen werden weiter zementiert. Diese Gesellschaft begegnet Krisen, indem die Ursachen, die dazu geführt haben, verstärkt werden. Wie in den letzten Jahren autoritäre Erzählungen weiter gestärkt und unsere Beziehungen zueinander geschwächt wurden. Diese Voraussetzungen sind das Sprungbrett für neue, angeblich alternativlose, autoritäre Erzählungen wie „wir“ nun den kommenden Krisenzuständen des Klimas begegnen sollen.

Neue Wege aus den alten Denkweisen zu finden bedeutet für mich, den Bildschirm auszuschalten und meine Nachbar*innen kennenzulernen. Hier und jetzt gemeinsam schauen was fehlt, was gebraucht wird, was ich will, was du willst und was nicht. Zu handeln ohne irgendeine Autorität um Erlaubnis zu fragen, den Beton aufzureißen und Gärten anzulegen, eine Beziehung zur Erde, zu den Lebewesen aufzubauen, die durch unsere kolonial-industrielle Lebensweise zerstört wurde. Durch Handeln handlungsfähig werden, revoltieren und gegen die Regeln der Krisengesellschaft verstoßen. Essen klauen, kochen und umsonst verteilen. Nichts verärgert die Autoritäten der Krise so sehr, wie zu zeigen, dass sie überflüssig sind. Denn das sind sie auf jedem Fall. Neue Wege finden sich z. B. in den (alten) Lebensweisen mancher indigener Gemeinschaften. Dieses wertvolle Wissen und Erzählungen wurden und werden von der dominierenden kolonialen Geschichtsschreibung unsichtbar gemacht. In unseren selbstorganisierten Projekten können wir Vertrauen in unser Handeln und unsere Beziehungen aufbauen und haben eine Chance, dem Hamsterrad der Katastrophenideologie zu entfliehen.

Nur falls der Eindruck entstanden sein sollte, es ist kein Leben in Friede, Freude und veganem Eierkuchen. Die Menschen, die die großen Erzählungen verteidigen, werden immer auftauchen und die richtigen „Wahrheiten“ verkaufen wollen. Ich denke, dass die Sichtweise von Politiker*innen und Manager*innen, Menschen als zählbare Masse wahrzunehmen, die beeinflusst werden muss, bereits katastrophal ist. Manchmal ist es wichtig, sich dagegen zu verteidigen, wenn sie z. B. mit Gewalt zu überzeugen suchen (Polizei, Militär, Knast, Psychiatrie). Mit Arroganz und Abwertung schauen sie auf unsere Projekte, die ihnen nicht „groß“ genug oder nicht verwertbar genug sind. Die Ausbeutung in diesem System ist immer rational begründet. Die vermeintlich wissenschaftliche, rationale Empathielosigkeit, die alles Leben in Daten, Zahlen und Statistiken einzusperren sucht, zieht uns immer weiter in dieses zerstörerische Schlamassel. Sicherlich macht es Sinn, rational, mit kühlem Kopf, vorzugehen oder zu entscheiden, aber Rationalität ist zum Selbstzweck geworden, der alles steril macht und das Lebendige verdrängt. Ohne Empathie bleiben wir in der rationalen Krisenmaschine gefangen. Wie wäre es stattdessen, etwas mehr Irrationalität zu wagen und die eigenen Sehnsüchte und Bedürfnisse zu entdecken? Sich selbst in Verbundenheit mit der chaotischen Schönheit der Welt und emotionaler Verbindung mit einzigartigen Anderen zu verstehen?

Mein Vorschlag ist, jeden Vorschlag abzulehnen, der vorgibt, dass andere besser wissen, was für uns gut ist, als wir selbst. Die großen Erzählungen und Erzähler*innen ernsthaft zu hinterfragen und ihnen nicht mehr alles aus der Hand zu fressen. Zu erkunden, dass es einen Unterschied gibt wenn ich mir Wissen aneigne und mich damit zum Handeln befähige oder wenn ich von Wissen beherrscht werde. Den Vorschlag ausschlagen, dass ich mich den Narrativen der Macht anschließen muss, weil ich angeblich sonst nichts ausrichten könnte. Die eigenen Emotionen wieder entdecken und Intuition stärken. Herrschaft abzulehnen ist genauso wichtig wie Vertrauen aufzubauen, in mich und andere. Denn die Krise fängt bereits in unseren Beziehungen zueinander an und hier können wir auch anfangen, sie zu verändern und Auswege zu finden.