Sie nennen es Fortschritt

Eigentlich wissen alle Bescheid, so wie bisher kann es nicht weiter gehen. Während die Superreichen schon fleißig in eine neue Existenz im All investieren, sind andere dabei sich mit hilflosen Appellen an die Verantwortlichen zu wenden oder halten unbeirrt an der Vorstellung fest, dass die Technologie es schon irgendwie richten wird. Allen ist gemeinsam, dass sie das Offenkundige nicht wahrhaben wollen. Die Ursachen aktueller Krisen liegen im Kapitalismus und im Narrativ des Fortschritts, auf welchem dieser aufbaut. Dies anzuerkennen würde aber bedeuten, so ziemlich alles, was einer*m lieb und heilig ist, in Frage zu stellen und eine komplett andere Perspektive einzunehmen.

Wir alle sind geprägt von einer Erzählung über die Welt, die so unumstößlich wie mächtig scheint. Die uns seit klein auf eingehämmert wird und die jedes Entdecken und Erkunden in ein vorgefertigtes Bild einfügt. Ein Bild, das gezeichnet von den Herrschenden jeder Zeit, die Doktrin des Fortschritts wie eine natürliche Gegebenheit über der Geschichte schweben lässt. Wie ein roter Faden soll er sich seit den Anfängen des Homo sapiens bis in die Gegenwart ziehen, stets zu unserem Besten und dem Wohle aller. So heißt es zumindest. Der Glaube an ihn nimmt geradezu fanatische Züge an und wer sich dem widersetzt kann nur rückständig oder verrückt sein. Aber warum hält sich diese Überzeugung so hartnäckig? Im globalen Vergleich und über die Zeitgeschichte betrachtet profitieren von diesem Narrativ schließlich nur wenige. Sicher, manchen hat der Fortschritt Wohlstand und gewisse Absicherungen gebracht. Einige sind sogar stinkreich geworden. Doch der Preis, der dafür gezahlt wurde, ist unermesslich. In seinem Namen wurden Kriege geführt und ganze Völker ausgelöscht. Grund und Boden zu Eigentum, Grenzen und Mauern hochgezogen und die Lohnsklaverei erfunden. Landschaften geplündert, Flüsse gezähmt und das Leben domestiziert. Die Geschichte des Fortschritts ist vor allem eine europäische Geschichte. Eine, die von dem Glauben der eigenen Überlegenheit ausgeht und die Welt nur eindimensional zu betrachten in der Lage ist. Da wo die westlichen Kolonialherren ihren Fortschritt einst hingebracht haben, hat er eine Spur der Vernichtung und Verwüstung hinterlassen. Nahezu alles Existierende wurde dem Terror des weißen Fortschrittglaubens unterworfen und so die Vielfalt an Lebensweisen und Perspektiven auf dieser Welt fast gänzlich von der Erdoberfläche und aus dem Bewusstsein getilgt.

Sicher, zurück in die Steinzeit ist auch keine Option, aber schauen wir uns um, gibt es allen Grund dazu, den bedingungslosen Glauben an den Fortschritt ein für alle Mal auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen. Nicht nur, weil dieser schon so unvorstellbar viel Leid und Elend verursacht hat und gerade dabei ist das Ökosystem des Planeten unwiderruflich an die Wand zu fahren. Sondern auch, weil wir als Menschen in einer hochtechnologisierten Umgebung, die aktuell diesem Fortschritt entspringt, zunehmend geistig und emotional zu verkümmern drohen. Wir leben in einer Gesellschaft, in der wir jeglichen Bezug zu uns selbst, unserer Umwelt und dem Gegenüber verloren haben. Zwischenmenschliche Freuden und Bedürfnisse wie Zuneigung, Liebe und Freundschaft verschieben sich zusehends in eine Sphäre von Klicks und Likes. Dabei bestimmen Oberflächlichkeiten, wer wir sind und die Trends der sozialen Medien, wer wir zu sein haben. Wir werden einer körperlichen Zurichtung unterworfen, die trotz der viel gepriesenen Diversität nur Normen und Optimierung kennt und Zuspruch auf Plattformen wie Instagram und Tiktok werden zum Maßstab für das Selbstwertgefühl. Stundenlang starren wir wie paralysiert auf irgendwelche Bildschirme und unser Alltag ist geprägt davon völlig entfremdete Dinge zu verrichten. Leistung, Fleiß und Erfolg sind, ganz in der Tradition protestantischer Arbeitsethik, die Tugenden, die dieses jämmerliche System des Bewertens und Performens am Laufen halten. Depressionen und chronische Krankheiten als Folge davon gehören dabei schon genauso zum modernen urbanen Lifestyle wie Yogamatte und Psychotherapie. Hauptsache das digitale Ich generiert ordentlich Content. Quantität ist alles, viel hilft viel.

All das wird uns als Fortschritt verkauft. Doch das einzige was hier fortzuschreiten scheint, ist die Entfremdung von uns selbst. Von den eigenen Wünschen und Ideen. Unseren Empfindungen und dem Verlangen. Jedes Gefühl und jede Regung wird mittels Apps und technischen Geräten zur Ware und als Informationen verpackt der kapitalistischen Verwertung zugeführt. Unsere Daten sind der Rohstoff, welcher die kybernetischen Systeme füttert, um das „Sein“ zu kontrollieren und das „Werden“ steuer- und regelbar zu machen. Verhaltensforschung und Datenanalysen kreieren mit Hilfe Künstlicher Intelligenz die Bedürfnisse von Morgen und lassen uns mit spielerischer Leichtigkeit glauben, es wären die ganz eigenen. Die Manipulation funktioniert hierbei so unscheinbar und ausgeklügelt, dass wir sie nicht mal als solche wahrnehmen können. Das erklärt auch, warum die Neurowissenschaft für die Erschaffung des digitalen Universums von mindestens genau so großer Bedeutung ist wie die Informatik selbst. Nichts wird hier dem Zufall überlassen. Die virtuelle Realität ist dazu designt, unser Tun zu beherrschen und über unsere Zeit zu verfügen. Als ihre Nutzer*innen sind wir komplett entmündigt und werden in einer endlosen Abhängigkeitsschlaufe gefangen gehalten.

Fortschritt bedeutet also noch lange nicht, dass auch irgendetwas besser wird. Erst recht nicht, wenn dieser unter dem Gesichtspunkt wirtschaftlichen Wachstums und Gewinnmaximierung geschaffen wird. Was nun mal die Kriterien sind, die unumstößlich mit dem westlichen Fortschrittsgedanken verknüpft sind. Genauso wie einst die Sesshaftigkeit oder die Industrialisierung unser Verhalten und unsere Beziehungen maßgeblich verändert haben, kann dies aktuell anhand der Digitalisierung beobachtet werden. Mit dem Unterschied, dass diese Veränderungen nicht mehr als Wechselwirkung mit der Umwelt und materiellen Bedingungen einhergehen, sondern direkt auf das Nervensystem und die Neuronen unseres Gehirns abzielen und so in unsere Gedanken und Gefühlswelt eingreifen. Es besteht kein Zweifel, wir befinden uns an einem Punkt der Geschichte, an dem die Technologie zunehmend die völlige Kontrolle über unser Leben einnimmt. Wer das nicht wahrhaben will, überlege sich mal, wie ein ganz normaler Tag ohne Internet und Smartphone aussehen würde. Manche werden einwenden, dass dies nun mal der Lauf der Dinge sei, und in genau diesem Moment wird das Narrativ vom Fortschritt aus ihnen sprechen. Es ist so felsenfest in unseren Köpfen verankert, dass uns die Vorstellung nach einem anderem Leben unmöglich erscheint und Angst bereitet. Daher ist das unsichtbar Machen jeder Perspektive auf die Welt, die von dieser Erzählung abweicht, auch integraler Bestandteil der Logik des Fortschritts. Mit dieser Logik zu brechen ist die einzige Exit-Strategie die uns bleibt, um das Leben in die eigenen Hände zu nehmen und der Fremdbestimmung zu entfliehen.